H. heute, euphorisiert: Er sei im Traum
in einem geräumigen Karton, einem leeren Postpaket, geflogen, habe
also das erste Mal im Traum über eine Art Fluggerät verfügt, wo er
sich doch sonst immer nur gänzlich ohne flugfähigen Untersatz von
böigen Winden in die Höhe gerissen geträumt habe, nur um nach dem
Abflauen der Bö wieder in die bodenlose Tiefe zu stürzen, in der
unsagbaren Angst in tausend Stücke zu zerspringen. Diesmal
aber habe er manövrieren können, mehr schlecht als recht, aber
immerhin. Ein unendliches Glücksgefühle habe ihm der Traum
beschert, bis weit über das Erwachen hinaus.
J.M.Z.
Dienstag, 21. Juni 2011
Montag, 25. April 2011
im Traum, in Tränen
H. erzählte, er sei im Traum einem
Mann begegnet, der vor nicht allzu langer Zeit an Krebs
gestorben sei. Sie hätten an einem von Gesprächen umbrandeten
Kantinentisch gesessen und über dieses und jenes geredet, aber er
könne sich nicht genau erinnern, woran. Erinnern könne er sich nur
an das wilde lockige Haar, die schnellen, glänzenden Augen, die
drängende Sprache. Er habe gewusst, sagte H., dass er träume, und
er habe demzufolge auch gewusst, dass der Mann, der ihm so lebendig
und anfassbar gegenübersaß, in Wirklichkeit längst tot gewesen
sei. Mit großem Staunen habe er die Lebendigkeit des Traumbilds
versucht in sich einströmen zu lassen. Er habe gedacht, dass ein
jedes noch so lebendige Erinnerungsbild gegen dieses Bild seines
träumenden Geistes verblassen musste. Daraufhin sei er im Traum in
Tränen ausgebrochen, es habe ihn kramphaft geschüttelt. Er habe
sich nicht mehr beruhigen können. Der Mann habe ihn angesehen, und
er, H., habe in seinen Augen erkennen können, dass er um die Gründe
seiner Tränen wusste. Der Mann habe ihn ins Fadenkreuz seines Blicks
genommen und ihm die Hand auf die Schulter gelegt, wie zum Trost. So
sicher, wie er sich gewesen sei zu träumen, genauso sicher sei sich
mit einem Mal sein träumendes Bewusstsein gewesen, dass der Tote
kein Produkt seines Unbewusten war, sondern sich Zutritt verschafft hatte in
seine Traumwelt und um sein eigenes Schicksal wusste. H. winkte ab. Er sagte:
"Was rede ich nur." Und schwieg. Nach einer Weile, in die
Stille des leeren Cafés hinein, sagte er: Je älter er werde, umso
schlimmer wird es. Was, fragte ich. Die Unruhe, sagte er. Ein Glas
fiel zu Boden und zerbrach. H. ging hinter dem Tresen in die Knie,
kehrte die Scherben zusammen. Sein schweres Atmen war zu hören. Es
dauerte eine Weile, bis er wieder auftauchte und von etwas anderem
zu sprechen begann.
Montag, 20. September 2010
Das Waisenkind
H. sagte, kürzlich sei er in der
Vorstadt zum ersten Mal seit langem wieder an dem Kinderheim vorbeigekommen, in dessen Nähe
sich das Haus seiner Eltern befinde. Verwaist habe der Hof dagelegen,
verwittert die hölzernen Spielplatzbauten, überwuchert die
Rabatten. Die Farben der in den Sand gebauten Holzeisenbahn mit ihrem
Eisenbahnführerhäuschen und den drei unterschiedlich angemalten
Waggons seien verblichen gewesen, die Fenster des Heimes dunkel zu
einer längst lichtlosen Zeit. Alles habe darauf hingedeutet, dass
das Heim verlassen gewesen sei. Er habe sich in diesem Moment
erinnern müssen, sagte H., wie er vor vielen Jahren mit seiner
Mutter an dem von einem Zaun umfassten Grundstück des Heimes
vorbeispaziert sei. Einige Kinder im Vorschulalter hätten
miteinander gespielt, er habe durch die Zwischenräume der Zaunlatten
hindurch zu ihnen hinübergesehen, eine Gruppe von drei Jungen habe
lustlos und wortlos einen Ball zwischen sich hin und her gekickt,
einige Mädchen hätten in einem der Waggons der hölzernen
Spielzeugeisenbahn gesessen, ihre Pferdeschwänze hätten gewippt im
Halblicht, Klatschgeräusche seien zu hören gewesen. Einer der
Fußball spielenden Jungen habe ihn bemerkt und sich von seinen
Spielkameraden entfernt, er sei zügigen Schrittes zu ihm und seiner
Mutter herüber- und nah an den Zaun herangekommen, habe seine Hände
auf den Zaun gelegt, habe ihn und seine Mutter angesehen und nichts
gesagt. Er müsse lügen, sagte H., wenn er das Aussehen des Jungen
beschreiben wolle, aber wahrscheinlich sei er blond gewesen, habe
wassergraue Augen gehabt und eine auffällig blasse Hautfarbe. Eines
aber wisse er genau - seine Mutter habe später oft genug davon
gesprochen – der Hals des Jungen sei übersät gewesen von
dunklenblauen Malen und über seiner Lippe habe eine verschorfte
Wunde geprangt. Seine Mutter habe den Jungen, der einige Jahre jünger
gewesen sei als er, der er damals die zweite oder dritte Klasse
besuchte, gegrüßt, aber der Junge habe nichts erwidert, habe sie
beide nur mit ausdruckslosem Gesicht angestarrt und irgendwann den
Blick abgewandt und auf seine, H.'s, Hand gestarrt, die die ganze
Zeit schon in der an diesem kalten Wintertag besondern warmen Hand
seiner Mutter geruht hatte. Wenn es stimme, wie er jetzt denke, dann
habe er in der Hand seiner Mutter etwas gespürt, dass ihm habe
signalisieren wollen, dass es an der Zeit sei zu gehen, aber seine
Mutter habe nicht etwa an ihm gezogen, überhaupt habe sie nie an ihm
gezogen, um ihn von einem Ort fortzubringen, an dem er, aus welchen
Gründen auch immer, verweilen wollte. Diesmal aber habe er etwas
gespürt, eine Unruhe, ein Unbehagen, ein Gehenwollen, sowohl an sich
als auch in der reglosen Hand seiner Mutter. Er habe den Wunsch
verspürt, dem Jungen seine freie Hand hinzustrecken, aber er habe
wohl geahnt, dass der Zaun, der zwischen ihnen war, diese Geste als
eine unerträglich verzweifelte und aussichtslosn Geste hätte
erscheinen lassen. Dem Jungen hinter dem Zaun sei der Rotz aus der
Nase gelaufen, er habe ihn sich lautlos und scheinbar
gedankenverloren, den starren Blicken in seine, H.'s, Augen gerichtet,
mithilfe des Jackenärmels aus dem Gesicht gewischt, seine Mutter und
er hätten sich mit einem Mal, wie durch ein stummes Einverständnis
ausgelöst, in Bewegung gesetzt, seine Mutter habe dem Jungen bereits
im Gehen einen Gruß zugerufen, den der Junge nicht erwidert habe,
jedenfalls nicht für eine in seiner, H.'s, Empfindung schier
undenkbar lange Zeit, bis er, sie seien schon fast um die Ecke außer
Sichtweite gewesen, das Wort Mama zu hören glaubte, aber
seine Mutter habe nicht reagiert, habe nur ihren Schritt
beschleunigt, so als wären sie in Eile gewesen, was ganz und gar
nicht der Fall gewesen sei, wenn er sich recht erinnere. Er, H., habe
zu seiner Mutter hinaufgesehen, und so als habe sie ein in ihrem
Gesicht sich abspielendes Geheimnis zu verbergen gehabt, habe sie ihn
zu seiner großen Beunruhigung sehr lange nicht angesehen, während
sie den Rest des Weges stumm nebeneinander her gingen.
Donnerstag, 19. August 2010
Betende Hände
Ob
Dürers Betende
Hände
noch immer in dem sogenannten halben Zimmer
seiner alten Großmutter hingen,
das habe er sich fragen müssen, sagte H., als er vor kurzem einen
Mann zu sich mit nach Hause genommen und auf dessen Brust zu seiner
großen und ganz und gar nicht unguten Überraschung Dürers Betende
Hände eintätowiert
vorgefunden habe. Die Hände hätten ihn als Kind sehr angezogen,
etwas sei von ihnen ausgegangen und immer wieder - obwohl in der
Familie oder im Haus der Großmutter nie je auch nur ein einziges
Gebet gesprochen worden sei - in ihn hinein. Jetzt sah er sie
wieder, auf der Brust dieses Mannes, in Grautönen,
werkgetreu sozusagen, umflattert allerdings von einem Schwarm im
wahrsten Sinne des Wortes gestochen scharfer, vor dem Hintergrund der schier unfassbar blassen Brust des Mannes irisierender
Schmetterlinge. Als der Höhepunkt ihres – er müsse es so
geschmacklos aber zutreffend sagen – Ausritts bereits nahte, habe
der Mann, offenbar in vollem Bewusstsein darüber, dass H. der
Anblick seines auf unwahrscheinliche Art verzierten Brustkorbs in
große Erregung versetze, feierlich angehoben in seinem
unverwechselbaren Cockney-Akzent zu deklamieren, Our father in heaven, hallowed be your name, your kingdome come, your will be done, on earth as in heaven, und er, H., habe sich
nicht mehr einkriegen können und sei trotz aller vorangegangener
Unsicherheiten und Irritationen, mit denen Körperliches seinerseits zumeist einhergehe, begleitet von einem nicht zu bändigenden Gelächter, aufs Vortrefflichste gekommen. Dass er den Mann am darauf folgenden Morgen, als er das Schlafzimmer nach einem Gang auf die Toilette wieder betreten habe, mit gefalteten Händen vor dem Bett kniend und ein Gebet murmelnd vorfand, müsse klingen wie eine ausgedachte Pointe, sei aber nichts als die Wahrheit. Dass der Mann sich nicht habe unterbrechen lassen, sondern sein Gebet zu Ende gesprochen und sich dann mit einem deutlichen Zeichen der Erregung aufs Bett geworfen und seine Arme ausgebreitet habe, um ihn ein weiteres Mal in aller Heftigkeit zu nehmen, passe kaum zusammen mit seinem unbemerkten Verschwinden, das er habe feststellen müssen, nachdem er aufgewacht sei und nichts weiter habe vorfinden können, das von der Anwesenheit des Mannes Zeugnis ablegte, als Reste von Glitter auf dem Kopfkissen und, wie er bei einem Blick in den Spiegel habe feststellen können, auf seinen Lippen.
Mittwoch, 18. August 2010
Außerordentlich
Habe man erst einmal, sagte H., die
Stadt für eine längere Zeit nicht verlassen und verlasse sie dann
doch, kämen einem die selbstverständlichsten Dinge mit einem Mal
ganz außerordentlich vor. Zum Beispiel wie sich die Dämmerung, wenn
man sie von einem Zugfenster aus betrachte, über das Land lege, wie
die weite Landschaft nach und nach in ihr verschwinde, von keiner
Lichtquelle erhellt. Nur manchmal sehe man in weiter Entfernung die
erleuchteten Fenster eines einsam und verlassen daliegenden Hauses.
Auch die Stille auf einem Provinzbahnhof, sagte H., auf dem der Zug
halte für eine Weile, sei nicht, wie es ihm früher manches Mal
vorgekommen sei, unangenehm und geradezu ohrenbetäubend, sondern
plötzlich könne man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es
unmöglich sei, dass einem diese Stille, diese hinter allem liegende
Dunkelheit nicht fehle, wenn man in der Stadt, umgeben von einem
stetigen Rauschen und einem Schmutz aus Licht, immer weitermache,
einfach immer nur weitermache.
Montag, 9. August 2010
Ach
H. sagte, er habe in einem Essay etwas über das sogenannte Tian Wen gelesen,
einen klassischen chinesischen Text, der ausschließlich aus mehr oder weniger
verständlichen und rätselhaften Fragen bestehe. Am besten gefalle
ihm die Vermutung, sagte H., es könne sich bei dem Urheber des
Textes, dessen Identität nach wie vor ungeklärt sei, um einen
Dichter gehandelt haben, der in jede der aus jeweils zwei Versen bestehenden
Fragen einen möglichen Stoff bzw. Ausgangspunkt für eine Erzählung
kleidete, möglicherweise die ersten Worte für eine Geschichte, den
Ausgangspunkt für ein Rätsel, das im Verlauf der
Geschichte schließlich gelöst werde. Einige der Fragen des Tian Wen
allerdings seien so kryptisch, dass man sich kaum vorstellen könne,
das ihnen je auch nur irgendeine Anwort zugedacht war. Tian,
sagte H., bedeute Himmel. Wen bezeichne den Akt des
Fragens oder die Frage an sich. So könne die Bedeutung des Titels
auf Himmelsfragen, Fragen des Himmels, Der fragende
Himmel oder auch Fragen an den Himmel lauten. Jene Fragen
im Tian Wen, die den Anschein der Beantwortbarkeit erweckten,
könne man sich beispielsweise mit Sagen, wissenschaftlichen Ausführungen zur Himmelsmechanik, Geologie, Geographie oder mit den Hintergründen unaufgeklärter Gewaltverbrechen zu Hofe
beantwortet denken. Ein Großteil der Fragen allerdings stehe für
sich und eröffne genausowenig einen Vorstellungsraum wie die
vereinzelt im Text eingelassenen Leersilben, von denen es in
der klassischen chinesischen Literatur angeblich nur so wimmele.
Diese Silben seien lediglich Klang, an ihnen mache sich keine bestimmte Bedeutung fest und häufig seien diese Silben im Zentrum eines
Verstextes zu finden. Der Autor des Essaays bezeichne sie, wenn sich H. recht erinnere, als Textbelüfter. H. holte einen Zettel aus
seiner Tasche, sagte, dass ihm noch kein Textbelüfter eingefallen sei und
las mir etwas vor, das aus seiner Feder stammte. Erinnern kann ich mich nur an eine Frage:
Im Vorbeigehen, wie finden wir uns,
wenn die Welt uns einander nicht schenkt?
H. faltete das Blatt zusammen. Das
war's, sagte H. Ach,
hörte ich mich sagen. H. lachte. Ich hatte den Textbelüfter
geliefert.
Freitag, 6. August 2010
Der schönste Fußball
Die drei Jungs, die, so H., auf dem
Rollfeld des einstigen Flughafens den schönsten Fußball spielten, den er je
gesehen habe. Mit Kopf und Fuß kickten sie einander den Ball zu, im Hintergrund die
untergehende Sonne, der unfassbar weite Horizont inmitten der Stadt, lange berührte der Ball nicht den Boden, atemlos habe er zugesehen, für eine schwebende Ewigkeit, bis er schließlich doch den Boden
berührte, für eine Sekunde nur, um dann wieder, von Spieler zu Spieler, durch die Luft
geschickt zu werden, einander zu.
Dienstag, 20. Juli 2010
Die Altersskala
H.
erzählte, dass eine von ihm sehr geschätzte österreichische
Dichterin geschrieben habe, dass
die Psyche in das Alter hineingerissen werde und
dass auch ihm, der er zwar noch nicht alt sei, aber älter werde,
dieses Gefühl des Hineingerissenwerdens vertraut vorkomme, wenn auch
in anderer Hinsicht, schließlich sei seine Erfahrung mit dem
Älterwerden noch keine Erfahrung ernstzunehmenden körperlichen
Verfalls, allerdings auch keine Erfahrung zunehmender Potenziale
mehr, sondern lediglich eine der zunehmenden Verfestigung seines
Selbst, eine der mehr und mehr zunehmenden Unveränderlichkeit seiner
charakterlichen Verfasstheit. An bestimmten Dingen, sagte H., werde
sich eben, davon sei er überzeugt, schlicht nichts mehr ändern. (Er
könne sich höchstens vorstellen, sagte er, dass bestimmte
abgeschlossene Weichenstellungen von nun an zu einer beschleunigten
Entwicklung seiner Persönlichkeit führen werden, in deren Verlauf
sich alles in ihm bereits Angelegte mehr und mehr verdichte. Aber an
diesem Punkt könne er, obwohl er eine Vorliebe für das Spekulieren
habe, keinerlei Mutmaßung darüber anstellen, in welche Richtung
genau er sich entwickeln werde, das heißt, wer
nun
eigentlich eines Tages aus ihm geworden sein wird. Eine
selbstverständliche Tatsache, der er – noch,
wie er betonte – gleichgültig gegenüberstehe.) – Das Paar
jedenfalls, das er bei seinem Ausflug in die Kantine des
Stadteilrathauses
gesehen habe, bilde das eine Ende der Altersskala, sagte H.: der
Körper geschrumpft, der Rücken gekrümmt, die Augen
zusammengekniffen. Beim Essen dann die sichtbaren Symptome der
altersbedingten Regression: das gedankenlose kindliche
In-die-Leere-Starren beim Mümmeln der süßen Grießspeise, das
unbemerkte Kleckern der Fruchtsoße aufs Kinn, die geballte Faust, in
der unbeweglich der Löffel klemmt. Das alles, sagte H., in einer
wortlosen Zweisamkeit, der man ihre jahrzehntelange Bewährung ansah.
Mühsam hätten sich sich die Frau und der Mann vom Tisch erhoben und
die Kantine verlassen, Hand in Hand versteht sich, im Tempo der
Schnecken. Der bleibendste Eindruck sei das Fehlen (so jedenfalls,
sagte H., habe er es sich gedacht) jeglicher Bitternis gewesen.
Natürlich habe der Anblick, sagte H., seine Panik vor dem
Älterwerden wachgerufen, und natürlich habe ihn über seinem
zerkochten Möhreneintopf das Bild der Alten zu Tränen gerührt.
Das
andere Ende der Skala sei der Mann gewesen, den er vor einiger Zeit
in einem an der Hochbahn gelegenen Club gesehen und der ihn im
Halbdunkel der schlüpfrigen Tanzfläche angestarrt habe. Die Augen
hätten das Alter des Mannes, der jugendlich gekleidet gewesen sei
(auf eine kostümierte und anachronistische Art) verraten. Er müsse
über 70 gewesen sein und habe sich ihm ungelenk tanzend genähert,
in der Hoffnung, er würde auf ihn reagieren. Sein Interesse sei
jedenfalls unbedingt ein sexuelles gewesen, so viel sei auf den
ersten Blick klar gewesen. Aber das, was H. aus den Augen des Mannes
anstarrte, habe einen so überwältigenden Ekel in ihm ausgelöst,
dass er nicht anders konnte, als die Tanzfläche fluchtartig zu
verlassen. Er hätte sich nicht zum ersten Mal mit einem weitaus
älteren Mann eingelassen, aber die travestierte Jugendlichkeit des
Mannes (ein Kostüm, in dem er sich nicht im Mindesten wohlzufühlen
schien), der lächerliche Haarschnitt, die sportlich-enge Kleidung,
die die Alterszerbrechlichkeit des Körpers über die Maßen
akzentuierte und der sogar im Tanzflächenlicht zu erkennende,
solariumsverbrannte Ton seiner Haut – alles das sei schlicht zu
überwältigend, zu abstoßend gewesen. Er habe den Club verlassen
und sei nach Hause gegangen – der Abend sei zu nichts mehr zu
gebrauchen gewesen – und habe sich auf dem langen Nachhauseweg bald
fragen müssen, ob sein scharfes Urteil nicht doch mehr mit ihm
selbst als mit dem Mann zu tun gehabt haben könnte.
Donnerstag, 8. Juli 2010
Pervertierte Einbildungskraft
H.
heute zu mir, in einer Laune, die man nur als heiter
bezeichnen kann: Er habe sich in der vollen U-Bahn auf einen der
wenigen freien Plätze gesetzt, nicht ohne vorher, wie immer, zu
überprüfen, ob sich auf der Sitzfläche Schmutz oder dergleichen
befinde. Nachdem er sich gesetzt habe, sei ihm ein ziemlich starker
Kotgeruch aufgefallen. Zwar habe er die Vorstellung, sich direkt in
einen Haufen Scheiße hineingesetzt zu haben, ziemlich schnell von
sich schütteln können, denn er hatte die Sitzfläche ja zuvor
eingehend in Augenschein genommen. Als ihn aber die Blicke einiger
Fahrgäste trafen (eine Frau zum Beispiel habe ihn etwas mitleidig
angelächelt, sehr zurückhaltend, ein Lächeln mit den Mundwinkeln
nur, dann habe ihr Blick den Bereich unter dem Sitz gestreift, auf
dem er saß), sei er mit einem Mal davon überzeugt gewesen, dass
sich unter seinem Sitz eine riesengroßer Haufen Scheiße befinden müsse. Er
habe gedacht, dass dies auch der Grund dafür gewesen sein müsse,
dass der Platz in der nahezu vollbesetzten Bahn frei geblieben war,
obwohl es sich um einen der beliebten, direkt neben der Tür
befindlichen Plätze gehandelt hätte. Es hätte ihn wenig gekostet,
einen prüfenden Blick unter den Sitz zu werfen, aber er habe
sich nicht getraut und sei stattdessen, er konnte es spüren,
errötet. Natürlich habe er, als er ausstieg, mit einem kurzen Blick
aus den Augenwinkeln feststellen können, dass sich nichts, aber auch rein gar nichts, unter seinem Sitz befunden hätte. Jemand hatte vielleicht einen Furz gelassen, Scheiße am Schuh zu kleben oder sich in die
Hosen gemacht, habe er gedacht (was wiederum weitere Fantasien in ihm
hervorgerufen habe) und er habe wohl lediglich
unter dem Unglück zu leiden gehabt, einen über die Maßen
empfindlichen Geruchssinn und eine pervertierte Einbildungskraft zu besitzen. Leider wollte H. die erwähnten
Fantasien nicht mit mir teilen. Warum erzählst du mir diese peinliche Geschichte, fragte ich H. H. erwiderte, er könne es nicht genau
sagen, aber er sei sich sicher, dass mir diese seine Geschichte eines
Tages Anlass dazu geben werde, ihm endlich auch etwas von mir zu
erzählen, das mich ähnlich erheitere wie ihn seine Geschichte in eben diesem Moment.
Freitag, 12. März 2010
Riesengroße Schweinerei
Nach langem, schweigsamem Beieinandersitzen sagte H. : "Es gibt Menschen, die berührst du, und danach riechen deine Finger nach Rauch, so sehr, das wirst du nicht mehr los. Verstehst du? Du verbrennst dir zwar nicht die Finger, aber du wirst diesen widerlichen Geruch nicht mehr los. Eine riesengroße Schweinerei ist das."
Freitag, 5. März 2010
Die falsche Schwester
Ein alter Freund, der inzwischen in Übersee lebt, hat mir geschrieben. Der absenderlose Brief mit der ausländischen Briefmarke hat lange unangetastet auf dem Küchentisch gelegen, bis ich mich traute ihn zu öffnen. Aus irgendeinem Grund hatte ich ein ungutes Gefühl. Das Gefühl war so unbegründet wie die Nervosität, die einen überkommt, wenn man einen Anruf mit unterdrückter Rufnummer erhält, genauso paranoid. Als ich den Brief öffnete und die kleine enge Schrift sofort als die noch etwas kleiner und enger gewordene Schrift meines alten Freundes erkannte, war ich erleichtert. Ich dachte: Es hätte schlimmer kommen können. Ich dachte: Es ist dieser Freund, der mir geschrieben hat und kein anderer. Vielleicht dachte ich sogar etwas so Unsinniges wie: Das Schicksal meint es gut mit mir, die Vergangenheit ist gnädig. Warum mein alter Freund, seinen Absender nur in den Brief und nicht auf den Umschlag geschrieben hatte, verstand ich nicht. Noch auf der ersten Seite des Briefs schrieb mein alter Freund, dass seine Schwester gestorben sei. Er schrieb, er sei in unserer Geburtsstadt gewesen, um seine Schwester, wie er es ausdrückte, zu Grabe zu tragen. Er beschrieb den Tag des Begräbnisses als einen übersonnigen Tag, und er erwähnte, dass er mit seiner Familie auf dem Weg zum Friedhof an meinem Elternhaus vorbeigefahren sei und an mich gedacht habe. Ich stellte mir vor, wie mein alter Freund durch die triste Nachbarschaft meines Elternhauses fuhr und wie er später, zusammen mit drei anderen Männern, den Sarg seiner Schwester trug, obwohl heutzutage, wenn ich mich nicht täusche, es nur noch selten die Verwandten der Toten sind, die deren Särge tragen.
Mein Freund von früher und ich hatten uns – das fiel mir jetzt wieder ein – das letzte Mal vor einigen Jahren am Bahnhof unserer Geburtsstadt getroffen. Ich erkannte ihn schon von Weitem an der Art, wie er den Kopf ein wenig schräg hielt beim Gehen. Damals war früher noch nicht allzu lange her. Mein alter Freund hatte sich jedenfalls nicht verändert. Wenigstens bildete ich mir das ein, denn er sprach, wie er immer gesprochen hatte, er sah mich an, wie er mich immer angesehen hatte, er trug die gleiche Jacke, die er immer getragen hatte. Vielleicht war ich damals der Überzeugung, dass ich auf dem besten Weg in ein Leben war, in dem sich alle Verheißungen, die es in meiner Vorstellung bereithielt, irgendwann erfüllt haben würden. Vielleicht wollte ich aber auch nur Abstand von allem, das Stillstand vermuten ließ. In jedem Fall glaubte ich, in einer ganz anderen Welt zu leben, als mein alter Freund. Auf eine seltsame Art fühlte ich mich fremd vor ihm. Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte auf seine Worte. Ich war wütend, weil es nichts zu sagen gab.
Obwohl ich der Schwester meines alten Freundes nie sehr nah gewesen war, hatte ich früher den Eindruck gehabt, dass sie, immer in Sichtweite, ihre Bahnen um den Alltag unserer Freundschaft zog. Mein Freund von früher und ich sahen uns damals sehr oft. Unsere Freundschaft war so eng, dass wir uns vermissten, wenn mehr als ein Tag ohne ein Treffen oder ein Gespräch vergangen war. Die Schwester meines Freundes von früher begegnete mir nicht nur im Elternhaus meines Freundes, sondern auch in der Schule. Sie war zwei Klassen unter mir. Wir grüßten uns, wir kannten uns, auf distanzierte Art waren wir uns sympathisch.
Ich habe bisher wenig Erfahrung gemacht mit dem Tod. Die plötzliche Präsenz der Schwester meines Freundes von früher beunruhigte mich. In Gedanken nannte ich sie immer wieder bei ihrem Namen, es kam mir geradezu hysterisch vor. Seit ich meinen alten Freund und damit auch sie aus den Augen verloren hatte, war mir ihr seltener Name nicht mehr zu Ohren gekommen. Wäre es doch dazu gekommen, hätte ich mit großer Wahrscheinlich nicht an die Schwester meines alten Freundes gedacht.
Als ich am Tag nach der Brieflektüre aufwachte, ging mir im Halbschlaf der Gedanke durch den Sinn, dass die Schwester meines alten Freundes nicht tot sei. Der Gedanke weckte mich auf eine unangenehm Art, und je wacher ich wurde, desto unabweisbarer wurde die Überzeugung, dass mein Gedächtnis mir einen schrecklichen Streich gespielt hatte. Denn plötzlich fiel es mir wieder ein: Es hatte neben der jüngeren Schwester eine zweite Schwester gegeben, eine ältere Schwester, der ich nie begegnet war, weil sie damals nicht mehr in unserer Geburtsstadt lebte. Es bestand die Möglichkeit, dass ich mich geirrt hatte, dass ich in Gedanken die falsche Schwester tot geglaubt hatte. Ich schämte mich, und ich fragte mich argwöhnisch, warum mein alter Freund in seinem Brief den Namen der verstorbenen Schwester nicht erwähnt hatte. Aber dann sagte ich mir, dass es sicher keine Absicht gewesen war. Vielleicht hatte mein Freund von früher in seinem Brief gut versteckt darauf hingewiesen, welche Schwester gestorben war, ohne ihren Namen zu nennen. Vielleicht wollte oder konnte mein alter Freund aus irgendeinem Grund den Namen der Schwester nicht nennen. Ich las den Brief nicht noch einmal, um eine Antwort darauf zu finden, sondern nahm mir vor, meinen alten Freund in meinem Antwortbrief offen zu fragen, um welche Schwester es sich handelt, und die Scham angesichts meines folgenschweren Vergessens zu ignorieren. Aber die Scham blieb. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich schuldig. Ich hatte das Gefühl, etwas unfassbar Gewaltsames getan zu haben, etwas, wofür man nicht um Verzeihung bitten kann.
Ich hatte recht. Jetzt weiß ich es. Mein alter Freund hat mir geschrieben. Man kann sagen, es war nur ein Irrtum, ein Missverständnis. Aber so einfach ist das nicht.
Donnerstag, 4. Februar 2010
R.
H.
und ich machten mit dem 70-jährigen R. in einer Bar Bekanntschaft.
Er war allein, trank Mineralwasser und trug einen dünnen hellen
Trenchcoat. Wir bedauerten, dass er nicht in Begleitung war und
fragten uns, wie es wohl wäre, wenn er bei uns säße und wir uns
mit ihm unterhielten. R. bemerkte, dass wir über ihn redeten. Er kam
auf uns zu und fragte, ob es noch weitere Schwulen-
und Lesbenbars
in der Gegend gebe. Aber wir konnten ihm keine Auskunft geben und
baten ihn stattdessen, sich zu uns zu setzen. Nachdem er sich
versichert hatte, dass unser Angebot ernst gemeint war, nahm er es
mit einer gewissen Skepsis an und setzte sich zwischen uns auf die
Couch. R. begann zu reden. Seiner elaborierten Sprechweise wegen
hielten wir ihn anfänglich für einen Akademiker. Als R. allerdings
zum wiederholten Mal um unsere Zustimmung heischte, dass dieser oder
jener Sachverhalt von ihm besonders brillant ausgedrückt worden war
und sich auf kindlich-überhebliche Art darüber freute, wenn wir ihm
(zunächst aus Freundlichkeit und Anerkennung) beipflichteten, ahnten
wir, dass es anstrengend mit ihm werden würde und es sich bei ihm
mit großer Wahrscheinlichkeit nicht um einen Akademiker handelte.
Wir hatten ihn zu uns gebeten, und es gab keine Möglichkeit, ihn nun
ohne Weiteres wieder loszuwerden. Es dauerte nicht lange, bis wir von
dem katholischen Waisenhaus erfahren hatten, in dem er aufgewachsen
war, von den Spielereien unter der Bettdecke (nicht nur an sich
selbst, sondern auch an den vom Nachtschweiß feucht gewordenen
Verlockungen seines Heimfreundes), von den strengen Züchtigungen
durch die unbarmherzigen Nonnen, von der Scham, der Schuld und der
Sehnsucht, die nicht wusste wohin in der trostlosen Enge des Heims.
R. sagte, das Waisenhaus habe sein Leben zerstört. Es dauerte nicht
lange, bis wir von seiner jugendlichen Lese- und Rechtschreibschwäche
erfahren hatten und von seiner Faust-Lektüre im Jugendalter, die R.
so sehr beeindruckt hatte (was H. und mir schwer fiel zu glauben),
dass sie in ihm den Wunsch geweckt hatte, Buchhändler zu werden, was
ihm nach mehreren gescheiterten Bewerbungsversuchen mit einem nur
mittelmäßigen Volksschulabschluss schlussendlich doch noch gelang.
Wir erfuhren von R.'s Ausbruch aus der katholischen Kirche und der
Zuflucht, die er bei den Protestanten suchte und nicht fand, weil diese ihn nicht weniger erbarmungslos als die Katholiken für sein
Anderssein verurteilten, das er, wie er uns erzählte, ab der zweiten
Hälfte seines Lebens umso offener vor sich hertrug, je frommer die
Menschen waren, mit denen er Umgang pflegte. Er erzählte uns
von seinem Bibelstudium und lobte sich für seine profunden
theologischen Kenntnisse und seine Fähigkeit, selbst einem
beschlagenen Gemeindepfarrer in die argumentative Bredouille zu
bringen. (In welchen theologischen Zusammenhängen genau, das verriet
er uns nicht.) R. sagte, die Bibel habe sein Leben zerstört. Dass
R., trotz seiner Lebensgeschichte und seiner Liebe zu Männern, zum
engagierten Leiter einer dem Berliner Bistum angehörigen
theologischen Buchhandlung geworden war und sowohl Geistlichen als
auch theologisch interessierten Laien mit großer Sachkenntnis zur
Seite stand, erschien uns vor allen Dingen deshalb kaum vorstellbar,
weil R. nichts Gutes an der Bibel ließ. Vor vielen Jahren, sagte er,
habe er die Bibel gelesen und nach einer weiteren lektürebedingten
Demütung beschlossen, sie beiseite zu liegen und nur noch
hervorzunehmen, um sie mit der Kraft seines Denkens argumentativ zu
demontieren. Bisweilen, insbesondere im Kreise der radikalen
Bibelfreunde, der über eine überraschend große Anzahl
hochintelligenter Mitglieder verfüge, gelinge ihm das auch. Was ihn
aber vor allen Dingen bedrücke, sei die Tatsache, dass ihn auch die
Poesie der Bibel nicht mehr zu berühren vermag. Sie sei machtlos
gegen das Schlechte und Böse, das um sie ist. Als wir R. vorsichtig
mit der Tatsache vertraut machten, dass in der Bar, in der wir uns
befanden, der einzige Band der sogenannten Klobibliothek eine Bibel
war, lachte er laut auf und winkte ab. R. zeigte sich im weiteren
Verlauf unseres Gesprächs ungläubig über unsere Bemerkung, dass
wir uns zwar den Männern, aber deshalb noch lange nicht
notwendigerweise einander
über das Freundschaftliche hinaus zugeneigt fühlten. R. sah uns
abwechselnd an, dann strich er H. über die Wange, was H.
kommentarlos geschehen ließ. H. und ich sagten, dass wir uns nun
langsam verabschieden müssten, und R. eröffnete uns, dass es bis
zu einem gewissen Grad
bereichernd gewesen sei, sich mit uns zu unterhalten. Ich fragte R.,
ob er sich während unseres Gesprächs habe bemühen müssen, seine
Gedanken in eine schlichtere als die ihm gemäßeste Form zu kleiden.
Er bejahte meine Frage mit einem energischen Kopfnicken, so als hätte
er sich vor uns der Dummheit bezichtigt, wäre die Antwort auf die
Frage ein Nein gewesen, wovon stark auszugehen ist. H. und ich
verabschiedeten und verließen die Bar. Auf unserem Nachhauseweg
sprachen wir über R.'s erschütterndes Geständnis: Er habe nie in
seinem Leben, hatte R. gesagt je auch nur annähernd erfahren dürfen,
was es bedeute, eine Freundschaft einzugehen, ganz zu schweigen von
einer Liebesbeziehung, hatte R. gesagt. R. hatte uns im Anschluss
daran noch sein tiefgehendes Interesse sowohl für kriminologische
Fragen als auch für bestimmte Fragen des Sexualstrafrecht anvertraut
und sich dann, selbstvergessen und wie aus einem Buch vortragend,
eingehend zu einem Problemkomplex geäußert, den er mit dem Begriff
Sexualmündigkeit
bezeichnete. R. hatte uns wissen lassen, zu wem er sich sexuell
hingezogen fühlte. Es fiel uns nicht schwer, uns vorzustellen, wie
er in seinem dünnen Trenchcoat die windigen Ladenpassagen am Bahnhof
Zoo entlanglief. Die Vorstellung davon, was geschah, wenn er erst
fündig geworden war, beunruhigte uns aus irgendeinem Grund genauso,
wie etwas Grundsätzliches an ihm.
Dienstag, 8. Dezember 2009
Die Dichterlesung
Der Mann kam verspätet in den Saal und setzte sich auf den noch freien
Stuhl am Gang. Er trug eine dunkelblaue, dünne Jacke, unter der sich
seine knochigen Schultern abzeichneten. Die Ärmel waren zu lang und
die für die Jahreszeit zu dünne Windjacke viel zu groß. Während
auf dem Podium eine Dichterin ihre Verse las, berührte er seine
linke Achillesferse, streichelte, kniff und kratze sie, so wie andere
Menschen ungehalten an ihren Fingernägeln kauen oder an ihren
Barthaaren zupfen. Der Mann schien nicht ins Publikum zu passen.
Als die Dichterin ihren Vortrag beendet
hatte und die Zuhörer noch applaudierten, stand der Mann auf und
lief mit beunruhigend eiligen Schritten in Richtung Podium. Er
stürmte nicht auf die Bühne, sondern verschwand hinter einem
Vorhang, der sich neben dem Podium befand und durch den hindurch man
auf die Hinterbühne gelangte. Dann lasen zwei weitere Dichter. Als
der Moderator der Poesieveranstaltung schließlich einen Dichter aus
einem südafrikanischen Land ankündigte, über dessen genaue
geographische Lage ich mir im Unklaren war, kam er mir wieder in den
Sinn.
Der Mann, der vor mir gesessen hatte, trat nun mit nacktem Oberkörper
und mit einem Lendenschurz bekleidet auf die Bühne. Er trug eine
blonde Perücke. Das Haar türmte sich hoch und wild auf. Weder
Gelächter noch irgendeine andere Form des Ausdrucks von Amüsement
oder Überraschung war im Publikum zu vernehmen. In seiner
Verkleidung stellte der Mann das Stereotyp des unzivilisierten,
afrikanischen Wilden dar. In den englischsprachigen Gedichten, die er
deklamierte, war keinerlei Poesie, nur das Abbild des trostlosen
Lebens des Dichters: Armut und Hunger, Ausbeutung und
Ungerechtigkeit, die Gewissheit einer finsteren Zukunft. Der Dichter war sehr jung,
und das Land, aus dem er kam, ist, wie ich später erfuhr, eines der
ärmsten Länder der Welt. Die Texte des jungen Dichters dienten
keiner wie auch immer gearteten, poetischen Selbstvergewisserung
(einer dichterischen Haltung, an die wir gewöhnt sind), sondern
er musste sie eigens für uns geschrieben haben, womöglich noch im Flugzeug
auf dem Weg nach Europa. Sie waren an ahnungslose, in einer anderen,
von der Drangsal seines Lebens unberührten Welt lebende Menschen
gerichtet. Der Moderator hatte bei seiner Anmoderation nicht versäumt
zu erwähnen, dass der junge Dichter das erste Mal in seinem Leben
mit einem Flugzeug geflogen sei, um zu der Lesung zu kommen. Man nahm
das zur Kenntnis. Nach der Lesung machte es den Anschein, als sei gerade diese Information geeigneter gewesen, dem Publikum die
lebensweltliche Kluft begreiflich zu machen, die zwischen ihm und dem
jungen Dichter bestand, als alle Gedichte, die er gelesen hatte,
zusammengenommen.
Als später die Sektgläser geleert und
von den Appetithäppchen nur noch die Holzspießchen übrig waren,
stand der junge Dichter mit einem Glas Wein in meiner Nähe. Er trug
wieder die weite Jacke, seine freie Hand verschwand im Ärmel.
Manchmal sprach ihn jemand an, meistens stand er allein. Als ich ihn
zuletzt sah, packte er an der Garderobe eine Sporttasche. Sie war so
groß, dass ein ausgewachsener Mensch mit ein wenig akrobatischer
Begabung Platz in ihr gefunden hätte. Als er die Tasche anhob, sah
es so aus, als sei sie leer. Es hieß, er fliege noch in der Nacht zurück.
Freitag, 18. September 2009
Schöne Gegenstände
Wieder eine von H.'s dramatischen Geschichten: Er hat die teuer auf dem Flohmarkt erstandene taubenblaue Porzellantasse mit seinem Winterstiefel zertreten. Ich fragte ihn: "Und dann?" Er sagte: "Dann habe ich die Scherben liegen lassen und bin aus der Wohnung gegangen, in der Hoffnung, dass die Tasse wieder ganz ist, sobald ich zurückkomme." H. verabscheut sich für seine Sehnsucht nach schönen Gegenständen.
Mittwoch, 9. September 2009
Vergiß mich nicht!
H. hat mir vor einiger Zeit sehr eindrücklich von der Flucht seines Großvaters erzählt, der als Halbwüchsiger, gemeinsam mit seinen Geschwistern, vor den näherrückenden Sowjettruppen aus Pommern geflohen ist. Erika, die Schwester von H.'s Großvater, verschwand damals in einem Waldstück. H.'s Großvater hat nie von seinen Erlebnissen gesprochen. Wann immer es jemand wagte, ihn auf die Fluchtereignisse anzusprechen, polterte er, er habe dazu nichts zu sagen, er wisse nichts, er sei ein Rotzbengel gewesen und habe die Augen zugemacht, wann immer es ging.
H. sagte, dass er sich als Kind alles immer ganz genau habe ausmalen müssen. Wenn er nachts schlaflos gewesen sei, habe er die Bilder oft nicht loswerden können. Er habe Erika, als Kind in einem hellen Kleid mit nackten Armen, an einem bewölkten, windstillen Tag, an dem winzige, kaum sichtbare Schneeflocken vom Himmel fielen, zwischen den grauen Baumstämmen, gerade so als mache sie einen Waldspaziergang, langsam verschwinden sehen. Oft, sagte H., habe er sich Erika vorgestellt, wie sie – in ihrem leuchtenden Hemd an einen dunklen Baumstamm gelehnt – erfror, mit einem Gesichtsausdruck bar jeder Anspannung, so wie ihn H. von seiner schlafenden Schwester kannte.
An dem Tag, an dem mir H. all das erzählte, war ich gerade mit der Bearbeitung eines Textes über die Wilhelm Gustloff fertig geworden, deren Untergang nach einem sowjetischen Torpedotreffer mit mehr als 10.000 deutschen Zivilisten und Soldaten als größte Schifffahrtskatastrophe aller Zeiten Eingang in die Geschichtsbücher gefunden hat. Ich erzählte H. die Geschichte einer Familie, die man nicht mehr auf die Wilhelm Gustloff gelassen hatte, verschwieg ihm jedoch aus irgendeinem Grund ihr weiteres Kriegsschicksal.
H. sagte, dass er sich als Kind alles immer ganz genau habe ausmalen müssen. Wenn er nachts schlaflos gewesen sei, habe er die Bilder oft nicht loswerden können. Er habe Erika, als Kind in einem hellen Kleid mit nackten Armen, an einem bewölkten, windstillen Tag, an dem winzige, kaum sichtbare Schneeflocken vom Himmel fielen, zwischen den grauen Baumstämmen, gerade so als mache sie einen Waldspaziergang, langsam verschwinden sehen. Oft, sagte H., habe er sich Erika vorgestellt, wie sie – in ihrem leuchtenden Hemd an einen dunklen Baumstamm gelehnt – erfror, mit einem Gesichtsausdruck bar jeder Anspannung, so wie ihn H. von seiner schlafenden Schwester kannte.
An dem Tag, an dem mir H. all das erzählte, war ich gerade mit der Bearbeitung eines Textes über die Wilhelm Gustloff fertig geworden, deren Untergang nach einem sowjetischen Torpedotreffer mit mehr als 10.000 deutschen Zivilisten und Soldaten als größte Schifffahrtskatastrophe aller Zeiten Eingang in die Geschichtsbücher gefunden hat. Ich erzählte H. die Geschichte einer Familie, die man nicht mehr auf die Wilhelm Gustloff gelassen hatte, verschwieg ihm jedoch aus irgendeinem Grund ihr weiteres Kriegsschicksal.
H. hat mir eine Fotografie geschickt, die Erika zeigt.
H. schreibt in seiner E-Mail, er könne kaum glauben, dass ihm jahrelang nicht eingefallen sei, alles das, was er sich als Kind so lebhaft vorgestellt habe, zu hinterfragen. Nicht nur, dass Erika damals, wie das Foto belege, kein Kind mehr gewesen sei. Erika sei darüber hinaus mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht in einem Waldstück verschwunden, sondern auf der Wilhelm Gustloff umgekommen. Bei einer Familienfeier mit entfernten Verwandten großväterlicherseits sei das Gespräch, schrieb H., auf H.'s seit vielen Jahren verstorbenen Großvater und dessen Geschwister gekommen. Erika, habe es geheißen, habe ihre Familie verlassen, um die Wilhelm Gustloff zu erreichen, da sie geglaubt habe, der Fluchtweg zu See böte noch Chancen, während sie die Flucht zu Land, wie viele andere Flüchtende auch, als aussichtslos angesehen habe. Der Vorstoß der Roten Arme sei zu diesem Zeitpunkt sehr rasch erfolgt. Allerdings, schreibt H., habe niemand wissen können, ob Erika die Wilhelm Gustloff auch erreicht habe. H. schreibt, er habe niemandem aus seiner Familie von der Vorstellung erzählt, die er sich von Erika und ihrem Tod jahrelang seit seiner frühen Kindheit gemacht und dass er sie so viele Jahre immer für bare Münze gehalten hatte. Seltsam sei, schreibt H., dass ich damals, als er mir von seinem Großvater und Erika erzählte, die Wilhelm Gustloff ins Gespräch gebracht habe. Gar nicht seltsam sei dagegen, dass er jetzt, im Rückblick, nicht den Eindruck habe, an irgendeine andere Person als ebenjene auf dem Foto abgebildete Erika gedacht zu haben, wenn er sich als Kind das Kind Erika vorzustellen versuchte, sterbend im Wald. Wem die Worte auf dem Foto zugedacht sind, weiß H. nicht. Vielleicht hat Erika es auch nicht gewusst. Das ist zwar unwahrscheinlich, aber genauso wie H. damals das Bild der im Wald sterbenden, kleinen Erika nicht aus dem Sinn gegangen sei, gehe ihm nun die Möglichkeit nicht aus dem Sinn, dass die drei Worte auf der Fotografie ihm gelten könnten.
Montag, 7. September 2009
Die Spitze des Eisbergs
Während der Mittagspause erzählte ich H., dass ich mich immer häufiger beim Führen von Selbstgesprächen ertappe. Wenn ich während eines Spaziergangs oder während des Einkaufs mit mir im Widerstreit liege (ich habe H. anvertraut, dass es sich meist um Streitselbstgespräche handelt) und mich der irritierte, mitleidige oder belustigte Blick eines Passanten trifft, erst dann wird mir meistens bewusst, was ich tue, so dass ich annehmen muss, dass meine Selbstgespräche in einer Art halbbewussten Versunkenheit stattfinden, was deshalb bemerkenswert ist, weil man davon ausgehen können sollte, dass das Führen eines Streitgesprächs ohne ein gewisses Maß an geistiger Gegenwart (in diesem Falle sich selbst gegenüber) nicht möglich sein kann.
Bastian Schreck: "Selbstgespräch", Acryl auf Leinwand, 120x40 cm
Ich kann nicht mehr sagen, warum ich H. überhaupt davon erzählt habe. Ich kenne ihn kaum gut genug, um ihm solche Dinge anzuvertrauen. Aber vielleicht ist es seine Unaufgeregtheit, die mir signalisiert, dass ihn nichts erschüttern kann, zumindest nicht im Hinblick auf die seltsamenen Angewohnheiten seiner Mitmenschen. Während ich erzählte, hatte ich trotzdem den Eindruck, dass ich etwas Unangemessenes tat, als würde es sich um eine Art Geständnisgespräch handeln, einen viel zu übereilten Versuch, Intimität herzustellen, als erzählte man einem Menschen, in den man sich heimlich verliebt hat, bei einem Treffen, das sich aus Zufall ergibt und in ein Gespräch mündet, den allerschlimmsten und obszönsten Alptraum, den man je hatte. Aber als ich mit meiner Geschichte fertig war, sagte H. nichts. Ich sah auf seine Hände, die ein Glas nach dem anderen in das klare Spülwasser tauchten, die aufgeweichten Fingerkuppen, die flächige Brandnarbe auf der linken Hand, die er sich vor vielen Jahren zugezogen hatte, als er sich im Suff (wie er mir sinnigerweise im Suff auf meine Nachfrage erzählte) mit brühendem Wasser übergossen hatte, in der hirnlosen Hoffnung, den aus der Verbrennung resultierenden Schmerz gegen einen Liebesschmerz eintauschen zu können, was natürlich nicht gelang, sondern darin gipfelte, dass sich beide Schmerzarten mehr oder weniger potenzierten. H. reagierte weder mit Unverständnis auf mein Selbstgesprächgeständnis noch mit der Empfehlung mich in die therapeutische Horizontale zu begeben. Er erzählte mir stattdessen, dass ihm ein Gedanke nicht mehr aus dem Sinn gehe, seit er ein Buch gelesen habe, das er zu Großteilen nicht verstanden und daher fast vollständig wieder vergessen habe. Jedenfalls bestand die Vorstellung darin – und H. sagte vorneweg, er halte diese Vorstellung für nichts als die Wahrheit – dass nur ein Bruchteil der von den Menschen produzierten Sprache eine zwischenmenschliche Sprache sei – nur die Spitze des Eisberges, sagte H., heiße es in dem Buch –, während der große Rest sich jeder Beobachtung entziehe. Die Sprachen, die sich im Unterbewusstsein befinden und dort auch gesprochen werden, die Verbalträume, die Sprachgewitter im Halbschlaf, die Selbstgespräche, selbst das Denken in unseren Köpfen, das H.'s Ansicht nach nie vorsprachlich sei, sondern immer schon in der Sprache selbst stattfinde usw., alles das zusammen bilde, seit er das Buch gelesen habe, in seiner Vorstellung ein unermesslich reiches Sprachreservoir, das von seiner zwischenmenschlichen Zweckgebundenheit befreit sei und Formen beinhalte, von denen man eben träumen muss. H. sagte, nachdem ich bezahlt hatte, dass er eine gewisse Neugier, was meine Selbstgespräche angehe, nicht verleugnen könne und dass er sich sicher sei, dass ich bisweilen im Schlaf spreche.
Samstag, 5. September 2009
Die Dinge jenseits der Botschaftsmauer
Als ich mit H. heute über die sogenannten "Sexpartys" in der US-amerikanischen Botschaft in Kabul sprach, sagte er, er fühle sich an "Die Maske des roten Todes" von Edgar Allen Poe erinnert. Er sagte, es seien nicht so sehr die geschmacklosen Ausschweifungen an sich und ihre "pubertäre Schamhaftigkeit bei heruntergelasssenen Hosen", die den Kern seiner Erschütterung ausmachten, sondern vielmehr die Umstände, unter denen sie stattgefunden hätten, die Dinge jenseits der Botschaftsmauer sozusagen, sagte H., und dass er das wohl nicht näher auszuführen brauche. Poes Erzählung kannte ich nicht, also fragte ich H. nach ihrem Inhalt. Nachdem H. die Erzählung in aller Kürze zusammengefasst und ich die Parallelen, so wie H. sie ausgemacht zu haben glaubte, begriffen hatte, sagte H., das einzig bedauerliche an den "Kabuler Sexpartys" sei, dass ihnen Poes tödliche Pointe fehle. H. sagte, er könne zwar die von offizieller Seite verlautbarte Empörung nachvollziehen. Allerdings liege in ihr auch eine gewisse Ironie, angesichts des Tötens und Sterbens, an dem die Empörten nicht wenig Anteil gehabt hätten. Vor diesem Hintergrund seien die verklemmten Botschaftsspiele geradezu harmlos, insbesondere im Hinblick darauf, dass es sich, soviel er wisse, lediglich um Wachpersonal und nicht etwa um ranghohe politische Vertreter gehandelt habe. "Stell dir doch mal vor!", sagte er, lachte und führte seine Fantasie nicht weiter aus. Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Ich hatte nicht ein einziges Mal meine Meinung zu alledem geäußert, und wie schon die letzten Male, wenn ich übermäßig zurückhaltend war, winkte H., bestimmt aber nicht unhöflich, ab. Ich sah ihm noch eine Weile dabei zu, wie er die Gläser spülte und war froh, dass wir nicht mehr über diese Sache redeten.
Samstag, 22. August 2009
Belüftungszwang
Während des Weiterbildungsseminars, das L. und ich gemeinsam besuchten, meldete sich ein Teilnehmer und bat mich sehr höflich darum, ein Fenster zu öffnen. Er sagte: "Wäre es wohl möglich, dass wir für einen Moment belüften?" Ich bejahte und öffnete das Fenster, woraufhin sich der Mann mit einem Lächeln bedankte. L., die Französin ist, klärte mich anschließend flüsternd darüber auf, dass der Vorgang soeben ein sehr deutscher gewesen sei. Sie sei der festen Überzeugung, sagte sie, die Deutschen litten unter einer Art "Belüftungszwang". L. sagte, sie habe diese Eigenheit nach ihrer Ankunft in Deutschland vor vielen Jahren mit sehr viel Staunen und einigem Amüsement beobachtet. Sie habe allerdings nach einiger Zeit feststellen müssen, dass der allseitige Wunsch nach Frischluftzufuhr nur in den seltensten Fällen etwas mit einem tatsächlichen Mangel an Frischluft zu zun habe. Es sei ihr, flüsterte sie jetzt noch leiser, in den Sinn gekommen, dass rein körperliche Bedürfnisse nichts mit alledem zu tun hätten. Ich hatte den Anschluss an das Thema des Seminars längst verloren, aber war mehr als gespannt auf L.'s weitergehende Theorie. L. äußerte die Vermutung, dass die von den Deutschen während des Kriegs durchgeführten Vergasungen wohlmöglich mit alledem zu tun hätten. Für einen Moment sah sie mich ernst an, dann lächelte sie. L.'s Bemerkung ging mir nicht mehr aus dem Sinn, und es dauerte nicht lange, bis ich mir wünschte, jemand möge das Fenster schließen, denn in der Zwischenzeit war es empfindlich kühl geworden.