H.
und ich machten mit dem 70-jährigen R. in einer Bar Bekanntschaft.
Er war allein, trank Mineralwasser und trug einen dünnen hellen
Trenchcoat. Wir bedauerten, dass er nicht in Begleitung war und
fragten uns, wie es wohl wäre, wenn er bei uns säße und wir uns
mit ihm unterhielten. R. bemerkte, dass wir über ihn redeten. Er kam
auf uns zu und fragte, ob es noch weitere Schwulen-
und Lesbenbars
in der Gegend gebe. Aber wir konnten ihm keine Auskunft geben und
baten ihn stattdessen, sich zu uns zu setzen. Nachdem er sich
versichert hatte, dass unser Angebot ernst gemeint war, nahm er es
mit einer gewissen Skepsis an und setzte sich zwischen uns auf die
Couch. R. begann zu reden. Seiner elaborierten Sprechweise wegen
hielten wir ihn anfänglich für einen Akademiker. Als R. allerdings
zum wiederholten Mal um unsere Zustimmung heischte, dass dieser oder
jener Sachverhalt von ihm besonders brillant ausgedrückt worden war
und sich auf kindlich-überhebliche Art darüber freute, wenn wir ihm
(zunächst aus Freundlichkeit und Anerkennung) beipflichteten, ahnten
wir, dass es anstrengend mit ihm werden würde und es sich bei ihm
mit großer Wahrscheinlichkeit nicht um einen Akademiker handelte.
Wir hatten ihn zu uns gebeten, und es gab keine Möglichkeit, ihn nun
ohne Weiteres wieder loszuwerden. Es dauerte nicht lange, bis wir von
dem katholischen Waisenhaus erfahren hatten, in dem er aufgewachsen
war, von den Spielereien unter der Bettdecke (nicht nur an sich
selbst, sondern auch an den vom Nachtschweiß feucht gewordenen
Verlockungen seines Heimfreundes), von den strengen Züchtigungen
durch die unbarmherzigen Nonnen, von der Scham, der Schuld und der
Sehnsucht, die nicht wusste wohin in der trostlosen Enge des Heims.
R. sagte, das Waisenhaus habe sein Leben zerstört. Es dauerte nicht
lange, bis wir von seiner jugendlichen Lese- und Rechtschreibschwäche
erfahren hatten und von seiner Faust-Lektüre im Jugendalter, die R.
so sehr beeindruckt hatte (was H. und mir schwer fiel zu glauben),
dass sie in ihm den Wunsch geweckt hatte, Buchhändler zu werden, was
ihm nach mehreren gescheiterten Bewerbungsversuchen mit einem nur
mittelmäßigen Volksschulabschluss schlussendlich doch noch gelang.
Wir erfuhren von R.'s Ausbruch aus der katholischen Kirche und der
Zuflucht, die er bei den Protestanten suchte und nicht fand, weil diese ihn nicht weniger erbarmungslos als die Katholiken für sein
Anderssein verurteilten, das er, wie er uns erzählte, ab der zweiten
Hälfte seines Lebens umso offener vor sich hertrug, je frommer die
Menschen waren, mit denen er Umgang pflegte. Er erzählte uns
von seinem Bibelstudium und lobte sich für seine profunden
theologischen Kenntnisse und seine Fähigkeit, selbst einem
beschlagenen Gemeindepfarrer in die argumentative Bredouille zu
bringen. (In welchen theologischen Zusammenhängen genau, das verriet
er uns nicht.) R. sagte, die Bibel habe sein Leben zerstört. Dass
R., trotz seiner Lebensgeschichte und seiner Liebe zu Männern, zum
engagierten Leiter einer dem Berliner Bistum angehörigen
theologischen Buchhandlung geworden war und sowohl Geistlichen als
auch theologisch interessierten Laien mit großer Sachkenntnis zur
Seite stand, erschien uns vor allen Dingen deshalb kaum vorstellbar,
weil R. nichts Gutes an der Bibel ließ. Vor vielen Jahren, sagte er,
habe er die Bibel gelesen und nach einer weiteren lektürebedingten
Demütung beschlossen, sie beiseite zu liegen und nur noch
hervorzunehmen, um sie mit der Kraft seines Denkens argumentativ zu
demontieren. Bisweilen, insbesondere im Kreise der radikalen
Bibelfreunde, der über eine überraschend große Anzahl
hochintelligenter Mitglieder verfüge, gelinge ihm das auch. Was ihn
aber vor allen Dingen bedrücke, sei die Tatsache, dass ihn auch die
Poesie der Bibel nicht mehr zu berühren vermag. Sie sei machtlos
gegen das Schlechte und Böse, das um sie ist. Als wir R. vorsichtig
mit der Tatsache vertraut machten, dass in der Bar, in der wir uns
befanden, der einzige Band der sogenannten Klobibliothek eine Bibel
war, lachte er laut auf und winkte ab. R. zeigte sich im weiteren
Verlauf unseres Gesprächs ungläubig über unsere Bemerkung, dass
wir uns zwar den Männern, aber deshalb noch lange nicht
notwendigerweise einander
über das Freundschaftliche hinaus zugeneigt fühlten. R. sah uns
abwechselnd an, dann strich er H. über die Wange, was H.
kommentarlos geschehen ließ. H. und ich sagten, dass wir uns nun
langsam verabschieden müssten, und R. eröffnete uns, dass es bis
zu einem gewissen Grad
bereichernd gewesen sei, sich mit uns zu unterhalten. Ich fragte R.,
ob er sich während unseres Gesprächs habe bemühen müssen, seine
Gedanken in eine schlichtere als die ihm gemäßeste Form zu kleiden.
Er bejahte meine Frage mit einem energischen Kopfnicken, so als hätte
er sich vor uns der Dummheit bezichtigt, wäre die Antwort auf die
Frage ein Nein gewesen, wovon stark auszugehen ist. H. und ich
verabschiedeten und verließen die Bar. Auf unserem Nachhauseweg
sprachen wir über R.'s erschütterndes Geständnis: Er habe nie in
seinem Leben, hatte R. gesagt je auch nur annähernd erfahren dürfen,
was es bedeute, eine Freundschaft einzugehen, ganz zu schweigen von
einer Liebesbeziehung, hatte R. gesagt. R. hatte uns im Anschluss
daran noch sein tiefgehendes Interesse sowohl für kriminologische
Fragen als auch für bestimmte Fragen des Sexualstrafrecht anvertraut
und sich dann, selbstvergessen und wie aus einem Buch vortragend,
eingehend zu einem Problemkomplex geäußert, den er mit dem Begriff
Sexualmündigkeit
bezeichnete. R. hatte uns wissen lassen, zu wem er sich sexuell
hingezogen fühlte. Es fiel uns nicht schwer, uns vorzustellen, wie
er in seinem dünnen Trenchcoat die windigen Ladenpassagen am Bahnhof
Zoo entlanglief. Die Vorstellung davon, was geschah, wenn er erst
fündig geworden war, beunruhigte uns aus irgendeinem Grund genauso,
wie etwas Grundsätzliches an ihm.