Der Mann kam verspätet in den Saal und setzte sich auf den noch freien
Stuhl am Gang. Er trug eine dunkelblaue, dünne Jacke, unter der sich
seine knochigen Schultern abzeichneten. Die Ärmel waren zu lang und
die für die Jahreszeit zu dünne Windjacke viel zu groß. Während
auf dem Podium eine Dichterin ihre Verse las, berührte er seine
linke Achillesferse, streichelte, kniff und kratze sie, so wie andere
Menschen ungehalten an ihren Fingernägeln kauen oder an ihren
Barthaaren zupfen. Der Mann schien nicht ins Publikum zu passen.
Als die Dichterin ihren Vortrag beendet
hatte und die Zuhörer noch applaudierten, stand der Mann auf und
lief mit beunruhigend eiligen Schritten in Richtung Podium. Er
stürmte nicht auf die Bühne, sondern verschwand hinter einem
Vorhang, der sich neben dem Podium befand und durch den hindurch man
auf die Hinterbühne gelangte. Dann lasen zwei weitere Dichter. Als
der Moderator der Poesieveranstaltung schließlich einen Dichter aus
einem südafrikanischen Land ankündigte, über dessen genaue
geographische Lage ich mir im Unklaren war, kam er mir wieder in den
Sinn.
Der Mann, der vor mir gesessen hatte, trat nun mit nacktem Oberkörper
und mit einem Lendenschurz bekleidet auf die Bühne. Er trug eine
blonde Perücke. Das Haar türmte sich hoch und wild auf. Weder
Gelächter noch irgendeine andere Form des Ausdrucks von Amüsement
oder Überraschung war im Publikum zu vernehmen. In seiner
Verkleidung stellte der Mann das Stereotyp des unzivilisierten,
afrikanischen Wilden dar. In den englischsprachigen Gedichten, die er
deklamierte, war keinerlei Poesie, nur das Abbild des trostlosen
Lebens des Dichters: Armut und Hunger, Ausbeutung und
Ungerechtigkeit, die Gewissheit einer finsteren Zukunft. Der Dichter war sehr jung,
und das Land, aus dem er kam, ist, wie ich später erfuhr, eines der
ärmsten Länder der Welt. Die Texte des jungen Dichters dienten
keiner wie auch immer gearteten, poetischen Selbstvergewisserung
(einer dichterischen Haltung, an die wir gewöhnt sind), sondern
er musste sie eigens für uns geschrieben haben, womöglich noch im Flugzeug
auf dem Weg nach Europa. Sie waren an ahnungslose, in einer anderen,
von der Drangsal seines Lebens unberührten Welt lebende Menschen
gerichtet. Der Moderator hatte bei seiner Anmoderation nicht versäumt
zu erwähnen, dass der junge Dichter das erste Mal in seinem Leben
mit einem Flugzeug geflogen sei, um zu der Lesung zu kommen. Man nahm
das zur Kenntnis. Nach der Lesung machte es den Anschein, als sei gerade diese Information geeigneter gewesen, dem Publikum die
lebensweltliche Kluft begreiflich zu machen, die zwischen ihm und dem
jungen Dichter bestand, als alle Gedichte, die er gelesen hatte,
zusammengenommen.
Als später die Sektgläser geleert und
von den Appetithäppchen nur noch die Holzspießchen übrig waren,
stand der junge Dichter mit einem Glas Wein in meiner Nähe. Er trug
wieder die weite Jacke, seine freie Hand verschwand im Ärmel.
Manchmal sprach ihn jemand an, meistens stand er allein. Als ich ihn
zuletzt sah, packte er an der Garderobe eine Sporttasche. Sie war so
groß, dass ein ausgewachsener Mensch mit ein wenig akrobatischer
Begabung Platz in ihr gefunden hätte. Als er die Tasche anhob, sah
es so aus, als sei sie leer. Es hieß, er fliege noch in der Nacht zurück.