H.
erzählte, dass eine von ihm sehr geschätzte österreichische
Dichterin geschrieben habe, dass
die Psyche in das Alter hineingerissen werde und
dass auch ihm, der er zwar noch nicht alt sei, aber älter werde,
dieses Gefühl des Hineingerissenwerdens vertraut vorkomme, wenn auch
in anderer Hinsicht, schließlich sei seine Erfahrung mit dem
Älterwerden noch keine Erfahrung ernstzunehmenden körperlichen
Verfalls, allerdings auch keine Erfahrung zunehmender Potenziale
mehr, sondern lediglich eine der zunehmenden Verfestigung seines
Selbst, eine der mehr und mehr zunehmenden Unveränderlichkeit seiner
charakterlichen Verfasstheit. An bestimmten Dingen, sagte H., werde
sich eben, davon sei er überzeugt, schlicht nichts mehr ändern. (Er
könne sich höchstens vorstellen, sagte er, dass bestimmte
abgeschlossene Weichenstellungen von nun an zu einer beschleunigten
Entwicklung seiner Persönlichkeit führen werden, in deren Verlauf
sich alles in ihm bereits Angelegte mehr und mehr verdichte. Aber an
diesem Punkt könne er, obwohl er eine Vorliebe für das Spekulieren
habe, keinerlei Mutmaßung darüber anstellen, in welche Richtung
genau er sich entwickeln werde, das heißt, wer
nun
eigentlich eines Tages aus ihm geworden sein wird. Eine
selbstverständliche Tatsache, der er – noch,
wie er betonte – gleichgültig gegenüberstehe.) – Das Paar
jedenfalls, das er bei seinem Ausflug in die Kantine des
Stadteilrathauses
gesehen habe, bilde das eine Ende der Altersskala, sagte H.: der
Körper geschrumpft, der Rücken gekrümmt, die Augen
zusammengekniffen. Beim Essen dann die sichtbaren Symptome der
altersbedingten Regression: das gedankenlose kindliche
In-die-Leere-Starren beim Mümmeln der süßen Grießspeise, das
unbemerkte Kleckern der Fruchtsoße aufs Kinn, die geballte Faust, in
der unbeweglich der Löffel klemmt. Das alles, sagte H., in einer
wortlosen Zweisamkeit, der man ihre jahrzehntelange Bewährung ansah.
Mühsam hätten sich sich die Frau und der Mann vom Tisch erhoben und
die Kantine verlassen, Hand in Hand versteht sich, im Tempo der
Schnecken. Der bleibendste Eindruck sei das Fehlen (so jedenfalls,
sagte H., habe er es sich gedacht) jeglicher Bitternis gewesen.
Natürlich habe der Anblick, sagte H., seine Panik vor dem
Älterwerden wachgerufen, und natürlich habe ihn über seinem
zerkochten Möhreneintopf das Bild der Alten zu Tränen gerührt.
Das
andere Ende der Skala sei der Mann gewesen, den er vor einiger Zeit
in einem an der Hochbahn gelegenen Club gesehen und der ihn im
Halbdunkel der schlüpfrigen Tanzfläche angestarrt habe. Die Augen
hätten das Alter des Mannes, der jugendlich gekleidet gewesen sei
(auf eine kostümierte und anachronistische Art) verraten. Er müsse
über 70 gewesen sein und habe sich ihm ungelenk tanzend genähert,
in der Hoffnung, er würde auf ihn reagieren. Sein Interesse sei
jedenfalls unbedingt ein sexuelles gewesen, so viel sei auf den
ersten Blick klar gewesen. Aber das, was H. aus den Augen des Mannes
anstarrte, habe einen so überwältigenden Ekel in ihm ausgelöst,
dass er nicht anders konnte, als die Tanzfläche fluchtartig zu
verlassen. Er hätte sich nicht zum ersten Mal mit einem weitaus
älteren Mann eingelassen, aber die travestierte Jugendlichkeit des
Mannes (ein Kostüm, in dem er sich nicht im Mindesten wohlzufühlen
schien), der lächerliche Haarschnitt, die sportlich-enge Kleidung,
die die Alterszerbrechlichkeit des Körpers über die Maßen
akzentuierte und der sogar im Tanzflächenlicht zu erkennende,
solariumsverbrannte Ton seiner Haut – alles das sei schlicht zu
überwältigend, zu abstoßend gewesen. Er habe den Club verlassen
und sei nach Hause gegangen – der Abend sei zu nichts mehr zu
gebrauchen gewesen – und habe sich auf dem langen Nachhauseweg bald
fragen müssen, ob sein scharfes Urteil nicht doch mehr mit ihm
selbst als mit dem Mann zu tun gehabt haben könnte.