Ob
Dürers Betende
Hände
noch immer in dem sogenannten halben Zimmer
seiner alten Großmutter hingen,
das habe er sich fragen müssen, sagte H., als er vor kurzem einen
Mann zu sich mit nach Hause genommen und auf dessen Brust zu seiner
großen und ganz und gar nicht unguten Überraschung Dürers Betende
Hände eintätowiert
vorgefunden habe. Die Hände hätten ihn als Kind sehr angezogen,
etwas sei von ihnen ausgegangen und immer wieder - obwohl in der
Familie oder im Haus der Großmutter nie je auch nur ein einziges
Gebet gesprochen worden sei - in ihn hinein. Jetzt sah er sie
wieder, auf der Brust dieses Mannes, in Grautönen,
werkgetreu sozusagen, umflattert allerdings von einem Schwarm im
wahrsten Sinne des Wortes gestochen scharfer, vor dem Hintergrund der schier unfassbar blassen Brust des Mannes irisierender
Schmetterlinge. Als der Höhepunkt ihres – er müsse es so
geschmacklos aber zutreffend sagen – Ausritts bereits nahte, habe
der Mann, offenbar in vollem Bewusstsein darüber, dass H. der
Anblick seines auf unwahrscheinliche Art verzierten Brustkorbs in
große Erregung versetze, feierlich angehoben in seinem
unverwechselbaren Cockney-Akzent zu deklamieren, Our father in heaven, hallowed be your name, your kingdome come, your will be done, on earth as in heaven, und er, H., habe sich
nicht mehr einkriegen können und sei trotz aller vorangegangener
Unsicherheiten und Irritationen, mit denen Körperliches seinerseits zumeist einhergehe, begleitet von einem nicht zu bändigenden Gelächter, aufs Vortrefflichste gekommen. Dass er den Mann am darauf folgenden Morgen, als er das Schlafzimmer nach einem Gang auf die Toilette wieder betreten habe, mit gefalteten Händen vor dem Bett kniend und ein Gebet murmelnd vorfand, müsse klingen wie eine ausgedachte Pointe, sei aber nichts als die Wahrheit. Dass der Mann sich nicht habe unterbrechen lassen, sondern sein Gebet zu Ende gesprochen und sich dann mit einem deutlichen Zeichen der Erregung aufs Bett geworfen und seine Arme ausgebreitet habe, um ihn ein weiteres Mal in aller Heftigkeit zu nehmen, passe kaum zusammen mit seinem unbemerkten Verschwinden, das er habe feststellen müssen, nachdem er aufgewacht sei und nichts weiter habe vorfinden können, das von der Anwesenheit des Mannes Zeugnis ablegte, als Reste von Glitter auf dem Kopfkissen und, wie er bei einem Blick in den Spiegel habe feststellen können, auf seinen Lippen.
Donnerstag, 19. August 2010
Mittwoch, 18. August 2010
Außerordentlich
Habe man erst einmal, sagte H., die
Stadt für eine längere Zeit nicht verlassen und verlasse sie dann
doch, kämen einem die selbstverständlichsten Dinge mit einem Mal
ganz außerordentlich vor. Zum Beispiel wie sich die Dämmerung, wenn
man sie von einem Zugfenster aus betrachte, über das Land lege, wie
die weite Landschaft nach und nach in ihr verschwinde, von keiner
Lichtquelle erhellt. Nur manchmal sehe man in weiter Entfernung die
erleuchteten Fenster eines einsam und verlassen daliegenden Hauses.
Auch die Stille auf einem Provinzbahnhof, sagte H., auf dem der Zug
halte für eine Weile, sei nicht, wie es ihm früher manches Mal
vorgekommen sei, unangenehm und geradezu ohrenbetäubend, sondern
plötzlich könne man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es
unmöglich sei, dass einem diese Stille, diese hinter allem liegende
Dunkelheit nicht fehle, wenn man in der Stadt, umgeben von einem
stetigen Rauschen und einem Schmutz aus Licht, immer weitermache,
einfach immer nur weitermache.
Montag, 9. August 2010
Ach
H. sagte, er habe in einem Essay etwas über das sogenannte Tian Wen gelesen,
einen klassischen chinesischen Text, der ausschließlich aus mehr oder weniger
verständlichen und rätselhaften Fragen bestehe. Am besten gefalle
ihm die Vermutung, sagte H., es könne sich bei dem Urheber des
Textes, dessen Identität nach wie vor ungeklärt sei, um einen
Dichter gehandelt haben, der in jede der aus jeweils zwei Versen bestehenden
Fragen einen möglichen Stoff bzw. Ausgangspunkt für eine Erzählung
kleidete, möglicherweise die ersten Worte für eine Geschichte, den
Ausgangspunkt für ein Rätsel, das im Verlauf der
Geschichte schließlich gelöst werde. Einige der Fragen des Tian Wen
allerdings seien so kryptisch, dass man sich kaum vorstellen könne,
das ihnen je auch nur irgendeine Anwort zugedacht war. Tian,
sagte H., bedeute Himmel. Wen bezeichne den Akt des
Fragens oder die Frage an sich. So könne die Bedeutung des Titels
auf Himmelsfragen, Fragen des Himmels, Der fragende
Himmel oder auch Fragen an den Himmel lauten. Jene Fragen
im Tian Wen, die den Anschein der Beantwortbarkeit erweckten,
könne man sich beispielsweise mit Sagen, wissenschaftlichen Ausführungen zur Himmelsmechanik, Geologie, Geographie oder mit den Hintergründen unaufgeklärter Gewaltverbrechen zu Hofe
beantwortet denken. Ein Großteil der Fragen allerdings stehe für
sich und eröffne genausowenig einen Vorstellungsraum wie die
vereinzelt im Text eingelassenen Leersilben, von denen es in
der klassischen chinesischen Literatur angeblich nur so wimmele.
Diese Silben seien lediglich Klang, an ihnen mache sich keine bestimmte Bedeutung fest und häufig seien diese Silben im Zentrum eines
Verstextes zu finden. Der Autor des Essaays bezeichne sie, wenn sich H. recht erinnere, als Textbelüfter. H. holte einen Zettel aus
seiner Tasche, sagte, dass ihm noch kein Textbelüfter eingefallen sei und
las mir etwas vor, das aus seiner Feder stammte. Erinnern kann ich mich nur an eine Frage:
Im Vorbeigehen, wie finden wir uns,
wenn die Welt uns einander nicht schenkt?
H. faltete das Blatt zusammen. Das
war's, sagte H. Ach,
hörte ich mich sagen. H. lachte. Ich hatte den Textbelüfter
geliefert.
Freitag, 6. August 2010
Der schönste Fußball
Die drei Jungs, die, so H., auf dem
Rollfeld des einstigen Flughafens den schönsten Fußball spielten, den er je
gesehen habe. Mit Kopf und Fuß kickten sie einander den Ball zu, im Hintergrund die
untergehende Sonne, der unfassbar weite Horizont inmitten der Stadt, lange berührte der Ball nicht den Boden, atemlos habe er zugesehen, für eine schwebende Ewigkeit, bis er schließlich doch den Boden
berührte, für eine Sekunde nur, um dann wieder, von Spieler zu Spieler, durch die Luft
geschickt zu werden, einander zu.