Dienstag, 20. Juli 2010

Die Altersskala

H. erzählte, dass eine von ihm sehr geschätzte österreichische Dichterin geschrieben habe, dass die Psyche in das Alter hineingerissen werde und dass auch ihm, der er zwar noch nicht alt sei, aber älter werde, dieses Gefühl des Hineingerissenwerdens vertraut vorkomme, wenn auch in anderer Hinsicht, schließlich sei seine Erfahrung mit dem Älterwerden noch keine Erfahrung ernstzunehmenden körperlichen Verfalls, allerdings auch keine Erfahrung zunehmender Potenziale mehr, sondern lediglich eine der zunehmenden Verfestigung seines Selbst, eine der mehr und mehr zunehmenden Unveränderlichkeit seiner charakterlichen Verfasstheit. An bestimmten Dingen, sagte H., werde sich eben, davon sei er überzeugt, schlicht nichts mehr ändern. (Er könne sich höchstens vorstellen, sagte er, dass bestimmte abgeschlossene Weichenstellungen von nun an zu einer beschleunigten Entwicklung seiner Persönlichkeit führen werden, in deren Verlauf sich alles in ihm bereits Angelegte mehr und mehr verdichte. Aber an diesem Punkt könne er, obwohl er eine Vorliebe für das Spekulieren habe, keinerlei Mutmaßung darüber anstellen, in welche Richtung genau er sich entwickeln werde, das heißt, wer nun eigentlich eines Tages aus ihm geworden sein wird. Eine selbstverständliche Tatsache, der er – noch, wie er betonte – gleichgültig gegenüberstehe.) – Das Paar jedenfalls, das er bei seinem Ausflug in die Kantine des Stadteilrathauses gesehen habe, bilde das eine Ende der Altersskala, sagte H.: der Körper geschrumpft, der Rücken gekrümmt, die Augen zusammengekniffen. Beim Essen dann die sichtbaren Symptome der altersbedingten Regression: das gedankenlose kindliche In-die-Leere-Starren beim Mümmeln der süßen Grießspeise, das unbemerkte Kleckern der Fruchtsoße aufs Kinn, die geballte Faust, in der unbeweglich der Löffel klemmt. Das alles, sagte H., in einer wortlosen Zweisamkeit, der man ihre jahrzehntelange Bewährung ansah. Mühsam hätten sich sich die Frau und der Mann vom Tisch erhoben und die Kantine verlassen, Hand in Hand versteht sich, im Tempo der Schnecken. Der bleibendste Eindruck sei das Fehlen (so jedenfalls, sagte H., habe er es sich gedacht) jeglicher Bitternis gewesen. Natürlich habe der Anblick, sagte H., seine Panik vor dem Älterwerden wachgerufen, und natürlich habe ihn über seinem zerkochten Möhreneintopf das Bild der Alten zu Tränen gerührt. 
Das andere Ende der Skala sei der Mann gewesen, den er vor einiger Zeit in einem an der Hochbahn gelegenen Club gesehen und der ihn im Halbdunkel der schlüpfrigen Tanzfläche angestarrt habe. Die Augen hätten das Alter des Mannes, der jugendlich gekleidet gewesen sei (auf eine kostümierte und anachronistische Art) verraten. Er müsse über 70 gewesen sein und habe sich ihm ungelenk tanzend genähert, in der Hoffnung, er würde auf ihn reagieren. Sein Interesse sei jedenfalls unbedingt ein sexuelles gewesen, so viel sei auf den ersten Blick klar gewesen. Aber das, was H. aus den Augen des Mannes anstarrte, habe einen so überwältigenden Ekel in ihm ausgelöst, dass er nicht anders konnte, als die Tanzfläche fluchtartig zu verlassen. Er hätte sich nicht zum ersten Mal mit einem weitaus älteren Mann eingelassen, aber die travestierte Jugendlichkeit des Mannes (ein Kostüm, in dem er sich nicht im Mindesten wohlzufühlen schien), der lächerliche Haarschnitt, die sportlich-enge Kleidung, die die Alterszerbrechlichkeit des Körpers über die Maßen akzentuierte und der sogar im Tanzflächenlicht zu erkennende, solariumsverbrannte Ton seiner Haut – alles das sei schlicht zu überwältigend, zu abstoßend gewesen. Er habe den Club verlassen und sei nach Hause gegangen – der Abend sei zu nichts mehr zu gebrauchen gewesen – und habe sich auf dem langen Nachhauseweg bald fragen müssen, ob sein scharfes Urteil nicht doch mehr mit ihm selbst als mit dem Mann zu tun gehabt haben könnte.

Donnerstag, 8. Juli 2010

Pervertierte Einbildungskraft

H. heute zu mir, in einer Laune, die man nur als heiter bezeichnen kann: Er habe sich in der vollen U-Bahn auf einen der wenigen freien Plätze gesetzt, nicht ohne vorher, wie immer, zu überprüfen, ob sich auf der Sitzfläche Schmutz oder dergleichen befinde. Nachdem er sich gesetzt habe, sei ihm ein ziemlich starker Kotgeruch aufgefallen. Zwar habe er die Vorstellung, sich direkt in einen Haufen Scheiße hineingesetzt zu haben, ziemlich schnell von sich schütteln können, denn er hatte die Sitzfläche ja zuvor eingehend in Augenschein genommen. Als ihn aber die Blicke einiger Fahrgäste trafen (eine Frau zum Beispiel habe ihn etwas mitleidig angelächelt, sehr zurückhaltend, ein Lächeln mit den Mundwinkeln nur, dann habe ihr Blick den Bereich unter dem Sitz gestreift, auf dem er saß), sei er mit einem Mal davon überzeugt gewesen, dass sich unter seinem Sitz eine riesengroßer Haufen Scheiße befinden müsse. Er habe gedacht, dass dies auch der Grund dafür gewesen sein müsse, dass der Platz in der nahezu vollbesetzten Bahn frei geblieben war, obwohl es sich um einen der beliebten, direkt neben der Tür befindlichen Plätze gehandelt hätte. Es hätte ihn wenig gekostet, einen prüfenden Blick unter den Sitz zu werfen, aber er habe sich nicht getraut und sei stattdessen, er konnte es spüren, errötet. Natürlich habe er, als er ausstieg, mit einem kurzen Blick aus den Augenwinkeln feststellen können, dass sich nichts, aber auch rein gar nichts, unter seinem Sitz befunden hätte. Jemand hatte vielleicht einen Furz gelassen, Scheiße am Schuh zu kleben oder sich in die Hosen gemacht, habe er gedacht (was wiederum weitere Fantasien in ihm hervorgerufen habe) und er habe wohl lediglich unter dem Unglück zu leiden gehabt, einen über die Maßen empfindlichen Geruchssinn und eine pervertierte Einbildungskraft zu besitzen. Leider wollte H. die erwähnten Fantasien nicht mit mir teilen. Warum erzählst du mir diese peinliche Geschichte, fragte ich H. H. erwiderte, er könne es nicht genau sagen, aber er sei sich sicher, dass mir diese seine Geschichte eines Tages Anlass dazu geben werde, ihm endlich auch etwas von mir zu erzählen, das mich ähnlich erheitere wie ihn seine Geschichte in eben diesem Moment.