Freitag, 18. September 2009

Schöne Gegenstände

Wieder eine von H.'s dramatischen Geschichten: Er hat die teuer auf dem Flohmarkt erstandene taubenblaue Porzellantasse mit seinem Winterstiefel zertreten. Ich fragte ihn: "Und dann?" Er sagte: "Dann habe ich die Scherben liegen lassen und bin aus der Wohnung gegangen, in der Hoffnung, dass die Tasse wieder ganz ist, sobald ich zurückkomme." H. verabscheut sich für seine Sehnsucht nach schönen Gegenständen.

Mittwoch, 9. September 2009

Vergiß mich nicht!

H. hat mir vor einiger Zeit sehr eindrücklich von der Flucht seines Großvaters erzählt, der als Halbwüchsiger, gemeinsam mit seinen Geschwistern, vor den näherrückenden Sowjettruppen aus Pommern geflohen ist. Erika, die Schwester von H.'s Großvater, verschwand damals in einem Waldstück. H.'s Großvater hat nie von seinen Erlebnissen gesprochen. Wann immer es jemand wagte, ihn auf die Fluchtereignisse anzusprechen, polterte er, er habe dazu nichts zu sagen, er wisse nichts, er sei ein Rotzbengel gewesen und habe die Augen zugemacht, wann immer es ging. 
H. sagte, dass er sich als Kind alles immer ganz genau habe ausmalen müssen. Wenn er nachts schlaflos gewesen sei, habe er die Bilder oft nicht loswerden können. Er habe Erika, als Kind in einem hellen Kleid mit nackten Armen, an einem bewölkten, windstillen Tag, an dem winzige, kaum sichtbare Schneeflocken vom Himmel fielen, zwischen den grauen Baumstämmen, gerade so als mache sie einen Waldspaziergang, langsam verschwinden sehen. Oft, sagte H., habe er sich Erika vorgestellt, wie sie – in ihrem leuchtenden Hemd an einen dunklen Baumstamm gelehnt – erfror, mit einem Gesichtsausdruck bar jeder Anspannung, so wie ihn H. von seiner schlafenden Schwester kannte.  
An dem Tag, an dem mir H. all das erzählte, war ich gerade mit der Bearbeitung eines Textes über die Wilhelm Gustloff fertig geworden, deren Untergang nach einem sowjetischen Torpedotreffer mit mehr als 10.000 deutschen Zivilisten und Soldaten als größte Schifffahrtskatastrophe aller Zeiten Eingang in die Geschichtsbücher gefunden hat. Ich erzählte H. die Geschichte einer Familie, die man nicht mehr auf die Wilhelm Gustloff gelassen hatte, verschwieg ihm jedoch aus irgendeinem Grund ihr weiteres Kriegsschicksal.



H. hat mir eine Fotografie geschickt, die Erika zeigt. 



H. schreibt in seiner E-Mail, er könne kaum glauben, dass ihm jahrelang nicht eingefallen sei, alles das, was er sich als Kind so lebhaft vorgestellt habe, zu hinterfragen. Nicht nur, dass Erika damals, wie das Foto belege, kein Kind mehr gewesen sei. Erika sei darüber hinaus mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht in einem Waldstück verschwunden, sondern auf der Wilhelm Gustloff umgekommen. Bei einer Familienfeier mit entfernten Verwandten großväterlicherseits sei das Gespräch, schrieb H., auf H.'s seit vielen Jahren verstorbenen Großvater und dessen Geschwister gekommen. Erika, habe es geheißen, habe ihre Familie verlassen, um die Wilhelm Gustloff zu erreichen, da sie geglaubt habe, der Fluchtweg zu See böte noch Chancen, während sie die Flucht zu Land, wie viele andere Flüchtende auch, als aussichtslos angesehen habe. Der Vorstoß der Roten Arme sei zu diesem Zeitpunkt sehr rasch erfolgt. Allerdings, schreibt H., habe niemand wissen können, ob Erika die Wilhelm Gustloff auch erreicht habe. H. schreibt, er habe niemandem aus seiner Familie von der Vorstellung erzählt, die er sich von Erika und ihrem Tod jahrelang seit seiner frühen Kindheit gemacht und dass er sie so viele Jahre immer für bare Münze gehalten hatte.  Seltsam sei, schreibt H., dass ich damals, als er mir von seinem Großvater und Erika erzählte, die Wilhelm Gustloff ins Gespräch gebracht habe. Gar nicht seltsam sei dagegen, dass er jetzt, im Rückblick, nicht den Eindruck habe, an irgendeine andere Person als ebenjene auf dem Foto abgebildete Erika gedacht zu haben, wenn er sich als Kind das Kind Erika vorzustellen versuchte, sterbend im Wald.  Wem die Worte auf dem Foto zugedacht sind, weiß H. nicht. Vielleicht hat Erika es auch nicht gewusst. Das ist zwar unwahrscheinlich, aber genauso wie H. damals das Bild der im Wald sterbenden, kleinen Erika nicht aus dem Sinn gegangen sei, gehe ihm nun die Möglichkeit nicht aus dem Sinn, dass die drei Worte auf der Fotografie ihm gelten könnten.

Montag, 7. September 2009

Die Spitze des Eisbergs


Während der Mittagspause erzählte ich H., dass ich mich immer häufiger beim Führen von Selbstgesprächen ertappe. Wenn ich während eines Spaziergangs oder während des Einkaufs mit mir im Widerstreit liege (ich habe H. anvertraut, dass es sich meist um Streitselbstgespräche handelt) und mich der irritierte, mitleidige oder belustigte Blick eines Passanten trifft, erst dann wird mir meistens bewusst, was ich tue, so dass ich annehmen muss, dass meine Selbstgespräche in einer Art halbbewussten Versunkenheit stattfinden, was deshalb bemerkenswert ist, weil man davon ausgehen können sollte, dass das Führen eines Streitgesprächs ohne ein gewisses Maß an geistiger Gegenwart (in diesem Falle sich selbst gegenüber) nicht möglich sein kann.


Bastian Schreck: "Selbstgespräch", Acryl auf Leinwand, 120x40 cm

Ich kann nicht mehr sagen, warum ich H. überhaupt davon erzählt habe. Ich kenne ihn kaum gut genug, um ihm solche Dinge anzuvertrauen. Aber vielleicht ist es seine Unaufgeregtheit, die mir signalisiert, dass ihn nichts erschüttern kann, zumindest nicht im Hinblick auf die seltsamenen Angewohnheiten seiner Mitmenschen. Während ich erzählte, hatte ich trotzdem den Eindruck, dass ich etwas Unangemessenes tat, als würde es sich um eine Art Geständnisgespräch handeln, einen viel zu übereilten Versuch, Intimität herzustellen, als erzählte man einem Menschen, in den man sich heimlich verliebt hat, bei einem Treffen, das sich aus Zufall ergibt und in ein Gespräch mündet, den allerschlimmsten und obszönsten Alptraum, den man je hatte. Aber als ich mit meiner Geschichte fertig war, sagte H. nichts. Ich sah auf seine Hände, die ein Glas nach dem anderen in das klare Spülwasser tauchten, die aufgeweichten Fingerkuppen, die flächige Brandnarbe auf der linken Hand, die er sich vor vielen Jahren zugezogen hatte, als er sich im Suff (wie er mir sinnigerweise im Suff auf meine Nachfrage erzählte) mit brühendem Wasser übergossen hatte, in der hirnlosen Hoffnung, den aus der Verbrennung resultierenden Schmerz gegen einen Liebesschmerz eintauschen zu können, was natürlich nicht gelang, sondern darin gipfelte, dass sich beide Schmerzarten mehr oder weniger potenzierten. H. reagierte weder mit Unverständnis auf mein Selbstgesprächgeständnis noch mit der Empfehlung mich in die therapeutische Horizontale zu begeben. Er erzählte mir stattdessen, dass ihm ein Gedanke nicht mehr aus dem Sinn gehe, seit er ein Buch gelesen habe, das er zu Großteilen nicht verstanden und daher fast vollständig wieder vergessen habe. Jedenfalls bestand die Vorstellung darin – und H. sagte vorneweg, er halte diese Vorstellung für nichts als die Wahrheit – dass nur ein Bruchteil der von den Menschen produzierten Sprache eine zwischenmenschliche Sprache sei – nur die Spitze des Eisberges, sagte H., heiße es in dem Buch , während der große Rest sich jeder Beobachtung entziehe. Die Sprachen, die sich im Unterbewusstsein befinden und dort auch gesprochen werden, die Verbalträume, die Sprachgewitter im Halbschlaf, die Selbstgespräche, selbst das Denken in unseren Köpfen, das H.'s Ansicht nach nie vorsprachlich sei, sondern immer schon in der Sprache selbst stattfinde usw., alles das zusammen bilde, seit er das Buch gelesen habe, in seiner Vorstellung ein unermesslich reiches Sprachreservoir, das von seiner zwischenmenschlichen Zweckgebundenheit befreit sei und Formen beinhalte, von denen man eben träumen muss. H. sagte, nachdem ich bezahlt hatte, dass er eine gewisse Neugier, was meine Selbstgespräche angehe, nicht verleugnen könne und dass er sich sicher sei, dass ich bisweilen im Schlaf spreche.

Samstag, 5. September 2009

Die Dinge jenseits der Botschaftsmauer

Als ich mit H. heute über die sogenannten "Sexpartys" in der US-amerikanischen Botschaft in Kabul sprach, sagte er, er fühle sich an "Die Maske des roten Todes" von Edgar Allen Poe erinnert. Er sagte, es seien nicht so sehr die geschmacklosen Ausschweifungen an sich und ihre "pubertäre Schamhaftigkeit bei heruntergelasssenen Hosen", die den Kern seiner Erschütterung ausmachten, sondern vielmehr die Umstände, unter denen sie stattgefunden hätten, die Dinge jenseits der Botschaftsmauer sozusagen, sagte H., und dass er das wohl nicht näher auszuführen brauche. Poes Erzählung kannte ich nicht, also fragte ich H. nach ihrem Inhalt. Nachdem H. die Erzählung in aller Kürze zusammengefasst und ich die Parallelen, so wie H. sie ausgemacht zu haben glaubte, begriffen hatte, sagte H., das einzig bedauerliche an den "Kabuler Sexpartys" sei, dass ihnen Poes tödliche Pointe fehle. H. sagte, er könne zwar die von offizieller Seite verlautbarte Empörung nachvollziehen. Allerdings liege in ihr auch eine gewisse Ironie, angesichts des Tötens und Sterbens, an dem die Empörten nicht wenig Anteil gehabt hätten. Vor diesem Hintergrund seien die verklemmten Botschaftsspiele geradezu harmlos, insbesondere im Hinblick darauf, dass es sich, soviel er wisse, lediglich um Wachpersonal und nicht etwa um ranghohe politische Vertreter gehandelt habe. "Stell dir doch mal vor!", sagte er, lachte und führte seine Fantasie nicht weiter aus. Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Ich hatte nicht ein einziges Mal meine Meinung zu alledem geäußert, und wie schon die letzten Male, wenn ich übermäßig zurückhaltend war, winkte H., bestimmt aber nicht unhöflich, ab. Ich sah ihm noch eine Weile dabei zu, wie er die Gläser spülte und war froh, dass wir nicht mehr über diese Sache redeten.