Dienstag, 8. Dezember 2009

Die Dichterlesung

Der Mann kam verspätet in den Saal und setzte sich auf den noch freien Stuhl am Gang. Er trug eine dunkelblaue, dünne Jacke, unter der sich seine knochigen Schultern abzeichneten. Die Ärmel waren zu lang und die für die Jahreszeit zu dünne Windjacke viel zu groß. Während auf dem Podium eine Dichterin ihre Verse las, berührte er seine linke Achillesferse, streichelte, kniff und kratze sie, so wie andere Menschen ungehalten an ihren Fingernägeln kauen oder an ihren Barthaaren zupfen. Der Mann schien nicht ins Publikum zu passen.
Als die Dichterin ihren Vortrag beendet hatte und die Zuhörer noch applaudierten, stand der Mann auf und lief mit beunruhigend eiligen Schritten in Richtung Podium. Er stürmte nicht auf die Bühne, sondern verschwand hinter einem Vorhang, der sich neben dem Podium befand und durch den hindurch man auf die Hinterbühne gelangte. Dann lasen zwei weitere Dichter. Als der Moderator der Poesieveranstaltung schließlich einen Dichter aus einem südafrikanischen Land ankündigte, über dessen genaue geographische Lage ich mir im Unklaren war, kam er mir wieder in den Sinn.




Der Mann, der vor mir gesessen hatte, trat nun mit nacktem Oberkörper und mit einem Lendenschurz bekleidet auf die Bühne. Er trug eine blonde Perücke. Das Haar türmte sich hoch und wild auf. Weder Gelächter noch irgendeine andere Form des Ausdrucks von Amüsement oder Überraschung war im Publikum zu vernehmen. In seiner Verkleidung stellte der Mann das Stereotyp des unzivilisierten, afrikanischen Wilden dar. In den englischsprachigen Gedichten, die er deklamierte, war keinerlei Poesie, nur das Abbild des trostlosen Lebens des Dichters: Armut und Hunger, Ausbeutung und Ungerechtigkeit, die Gewissheit einer finsteren Zukunft. Der Dichter war sehr jung, und das Land, aus dem er kam, ist, wie ich später erfuhr, eines der ärmsten Länder der Welt. Die Texte des jungen Dichters dienten keiner wie auch immer gearteten, poetischen Selbstvergewisserung (einer dichterischen Haltung, an die wir gewöhnt sind), sondern er musste sie eigens für uns geschrieben haben, womöglich noch im Flugzeug auf dem Weg nach Europa. Sie waren an ahnungslose, in einer anderen, von der Drangsal seines Lebens unberührten Welt lebende Menschen gerichtet. Der Moderator hatte bei seiner Anmoderation nicht versäumt zu erwähnen, dass der junge Dichter das erste Mal in seinem Leben mit einem Flugzeug geflogen sei, um zu der Lesung zu kommen. Man nahm das zur Kenntnis. Nach der Lesung machte es den Anschein, als sei gerade diese Information geeigneter gewesen, dem Publikum die lebensweltliche Kluft begreiflich zu machen, die zwischen ihm und dem jungen Dichter bestand, als alle Gedichte, die er gelesen hatte, zusammengenommen.




Als später die Sektgläser geleert und von den Appetithäppchen nur noch die Holzspießchen übrig waren, stand der junge Dichter mit einem Glas Wein in meiner Nähe. Er trug wieder die weite Jacke, seine freie Hand verschwand im Ärmel. Manchmal sprach ihn jemand an, meistens stand er allein. Als ich ihn zuletzt sah, packte er an der Garderobe eine Sporttasche. Sie war so groß, dass ein ausgewachsener Mensch mit ein wenig akrobatischer Begabung Platz in ihr gefunden hätte. Als er die Tasche anhob, sah es so aus, als sei sie leer. Es hieß, er fliege noch in der Nacht zurück.

Freitag, 18. September 2009

Schöne Gegenstände

Wieder eine von H.'s dramatischen Geschichten: Er hat die teuer auf dem Flohmarkt erstandene taubenblaue Porzellantasse mit seinem Winterstiefel zertreten. Ich fragte ihn: "Und dann?" Er sagte: "Dann habe ich die Scherben liegen lassen und bin aus der Wohnung gegangen, in der Hoffnung, dass die Tasse wieder ganz ist, sobald ich zurückkomme." H. verabscheut sich für seine Sehnsucht nach schönen Gegenständen.

Mittwoch, 9. September 2009

Vergiß mich nicht!

H. hat mir vor einiger Zeit sehr eindrücklich von der Flucht seines Großvaters erzählt, der als Halbwüchsiger, gemeinsam mit seinen Geschwistern, vor den näherrückenden Sowjettruppen aus Pommern geflohen ist. Erika, die Schwester von H.'s Großvater, verschwand damals in einem Waldstück. H.'s Großvater hat nie von seinen Erlebnissen gesprochen. Wann immer es jemand wagte, ihn auf die Fluchtereignisse anzusprechen, polterte er, er habe dazu nichts zu sagen, er wisse nichts, er sei ein Rotzbengel gewesen und habe die Augen zugemacht, wann immer es ging. 
H. sagte, dass er sich als Kind alles immer ganz genau habe ausmalen müssen. Wenn er nachts schlaflos gewesen sei, habe er die Bilder oft nicht loswerden können. Er habe Erika, als Kind in einem hellen Kleid mit nackten Armen, an einem bewölkten, windstillen Tag, an dem winzige, kaum sichtbare Schneeflocken vom Himmel fielen, zwischen den grauen Baumstämmen, gerade so als mache sie einen Waldspaziergang, langsam verschwinden sehen. Oft, sagte H., habe er sich Erika vorgestellt, wie sie – in ihrem leuchtenden Hemd an einen dunklen Baumstamm gelehnt – erfror, mit einem Gesichtsausdruck bar jeder Anspannung, so wie ihn H. von seiner schlafenden Schwester kannte.  
An dem Tag, an dem mir H. all das erzählte, war ich gerade mit der Bearbeitung eines Textes über die Wilhelm Gustloff fertig geworden, deren Untergang nach einem sowjetischen Torpedotreffer mit mehr als 10.000 deutschen Zivilisten und Soldaten als größte Schifffahrtskatastrophe aller Zeiten Eingang in die Geschichtsbücher gefunden hat. Ich erzählte H. die Geschichte einer Familie, die man nicht mehr auf die Wilhelm Gustloff gelassen hatte, verschwieg ihm jedoch aus irgendeinem Grund ihr weiteres Kriegsschicksal.



H. hat mir eine Fotografie geschickt, die Erika zeigt. 



H. schreibt in seiner E-Mail, er könne kaum glauben, dass ihm jahrelang nicht eingefallen sei, alles das, was er sich als Kind so lebhaft vorgestellt habe, zu hinterfragen. Nicht nur, dass Erika damals, wie das Foto belege, kein Kind mehr gewesen sei. Erika sei darüber hinaus mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht in einem Waldstück verschwunden, sondern auf der Wilhelm Gustloff umgekommen. Bei einer Familienfeier mit entfernten Verwandten großväterlicherseits sei das Gespräch, schrieb H., auf H.'s seit vielen Jahren verstorbenen Großvater und dessen Geschwister gekommen. Erika, habe es geheißen, habe ihre Familie verlassen, um die Wilhelm Gustloff zu erreichen, da sie geglaubt habe, der Fluchtweg zu See böte noch Chancen, während sie die Flucht zu Land, wie viele andere Flüchtende auch, als aussichtslos angesehen habe. Der Vorstoß der Roten Arme sei zu diesem Zeitpunkt sehr rasch erfolgt. Allerdings, schreibt H., habe niemand wissen können, ob Erika die Wilhelm Gustloff auch erreicht habe. H. schreibt, er habe niemandem aus seiner Familie von der Vorstellung erzählt, die er sich von Erika und ihrem Tod jahrelang seit seiner frühen Kindheit gemacht und dass er sie so viele Jahre immer für bare Münze gehalten hatte.  Seltsam sei, schreibt H., dass ich damals, als er mir von seinem Großvater und Erika erzählte, die Wilhelm Gustloff ins Gespräch gebracht habe. Gar nicht seltsam sei dagegen, dass er jetzt, im Rückblick, nicht den Eindruck habe, an irgendeine andere Person als ebenjene auf dem Foto abgebildete Erika gedacht zu haben, wenn er sich als Kind das Kind Erika vorzustellen versuchte, sterbend im Wald.  Wem die Worte auf dem Foto zugedacht sind, weiß H. nicht. Vielleicht hat Erika es auch nicht gewusst. Das ist zwar unwahrscheinlich, aber genauso wie H. damals das Bild der im Wald sterbenden, kleinen Erika nicht aus dem Sinn gegangen sei, gehe ihm nun die Möglichkeit nicht aus dem Sinn, dass die drei Worte auf der Fotografie ihm gelten könnten.

Montag, 7. September 2009

Die Spitze des Eisbergs


Während der Mittagspause erzählte ich H., dass ich mich immer häufiger beim Führen von Selbstgesprächen ertappe. Wenn ich während eines Spaziergangs oder während des Einkaufs mit mir im Widerstreit liege (ich habe H. anvertraut, dass es sich meist um Streitselbstgespräche handelt) und mich der irritierte, mitleidige oder belustigte Blick eines Passanten trifft, erst dann wird mir meistens bewusst, was ich tue, so dass ich annehmen muss, dass meine Selbstgespräche in einer Art halbbewussten Versunkenheit stattfinden, was deshalb bemerkenswert ist, weil man davon ausgehen können sollte, dass das Führen eines Streitgesprächs ohne ein gewisses Maß an geistiger Gegenwart (in diesem Falle sich selbst gegenüber) nicht möglich sein kann.


Bastian Schreck: "Selbstgespräch", Acryl auf Leinwand, 120x40 cm

Ich kann nicht mehr sagen, warum ich H. überhaupt davon erzählt habe. Ich kenne ihn kaum gut genug, um ihm solche Dinge anzuvertrauen. Aber vielleicht ist es seine Unaufgeregtheit, die mir signalisiert, dass ihn nichts erschüttern kann, zumindest nicht im Hinblick auf die seltsamenen Angewohnheiten seiner Mitmenschen. Während ich erzählte, hatte ich trotzdem den Eindruck, dass ich etwas Unangemessenes tat, als würde es sich um eine Art Geständnisgespräch handeln, einen viel zu übereilten Versuch, Intimität herzustellen, als erzählte man einem Menschen, in den man sich heimlich verliebt hat, bei einem Treffen, das sich aus Zufall ergibt und in ein Gespräch mündet, den allerschlimmsten und obszönsten Alptraum, den man je hatte. Aber als ich mit meiner Geschichte fertig war, sagte H. nichts. Ich sah auf seine Hände, die ein Glas nach dem anderen in das klare Spülwasser tauchten, die aufgeweichten Fingerkuppen, die flächige Brandnarbe auf der linken Hand, die er sich vor vielen Jahren zugezogen hatte, als er sich im Suff (wie er mir sinnigerweise im Suff auf meine Nachfrage erzählte) mit brühendem Wasser übergossen hatte, in der hirnlosen Hoffnung, den aus der Verbrennung resultierenden Schmerz gegen einen Liebesschmerz eintauschen zu können, was natürlich nicht gelang, sondern darin gipfelte, dass sich beide Schmerzarten mehr oder weniger potenzierten. H. reagierte weder mit Unverständnis auf mein Selbstgesprächgeständnis noch mit der Empfehlung mich in die therapeutische Horizontale zu begeben. Er erzählte mir stattdessen, dass ihm ein Gedanke nicht mehr aus dem Sinn gehe, seit er ein Buch gelesen habe, das er zu Großteilen nicht verstanden und daher fast vollständig wieder vergessen habe. Jedenfalls bestand die Vorstellung darin – und H. sagte vorneweg, er halte diese Vorstellung für nichts als die Wahrheit – dass nur ein Bruchteil der von den Menschen produzierten Sprache eine zwischenmenschliche Sprache sei – nur die Spitze des Eisberges, sagte H., heiße es in dem Buch , während der große Rest sich jeder Beobachtung entziehe. Die Sprachen, die sich im Unterbewusstsein befinden und dort auch gesprochen werden, die Verbalträume, die Sprachgewitter im Halbschlaf, die Selbstgespräche, selbst das Denken in unseren Köpfen, das H.'s Ansicht nach nie vorsprachlich sei, sondern immer schon in der Sprache selbst stattfinde usw., alles das zusammen bilde, seit er das Buch gelesen habe, in seiner Vorstellung ein unermesslich reiches Sprachreservoir, das von seiner zwischenmenschlichen Zweckgebundenheit befreit sei und Formen beinhalte, von denen man eben träumen muss. H. sagte, nachdem ich bezahlt hatte, dass er eine gewisse Neugier, was meine Selbstgespräche angehe, nicht verleugnen könne und dass er sich sicher sei, dass ich bisweilen im Schlaf spreche.

Samstag, 5. September 2009

Die Dinge jenseits der Botschaftsmauer

Als ich mit H. heute über die sogenannten "Sexpartys" in der US-amerikanischen Botschaft in Kabul sprach, sagte er, er fühle sich an "Die Maske des roten Todes" von Edgar Allen Poe erinnert. Er sagte, es seien nicht so sehr die geschmacklosen Ausschweifungen an sich und ihre "pubertäre Schamhaftigkeit bei heruntergelasssenen Hosen", die den Kern seiner Erschütterung ausmachten, sondern vielmehr die Umstände, unter denen sie stattgefunden hätten, die Dinge jenseits der Botschaftsmauer sozusagen, sagte H., und dass er das wohl nicht näher auszuführen brauche. Poes Erzählung kannte ich nicht, also fragte ich H. nach ihrem Inhalt. Nachdem H. die Erzählung in aller Kürze zusammengefasst und ich die Parallelen, so wie H. sie ausgemacht zu haben glaubte, begriffen hatte, sagte H., das einzig bedauerliche an den "Kabuler Sexpartys" sei, dass ihnen Poes tödliche Pointe fehle. H. sagte, er könne zwar die von offizieller Seite verlautbarte Empörung nachvollziehen. Allerdings liege in ihr auch eine gewisse Ironie, angesichts des Tötens und Sterbens, an dem die Empörten nicht wenig Anteil gehabt hätten. Vor diesem Hintergrund seien die verklemmten Botschaftsspiele geradezu harmlos, insbesondere im Hinblick darauf, dass es sich, soviel er wisse, lediglich um Wachpersonal und nicht etwa um ranghohe politische Vertreter gehandelt habe. "Stell dir doch mal vor!", sagte er, lachte und führte seine Fantasie nicht weiter aus. Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Ich hatte nicht ein einziges Mal meine Meinung zu alledem geäußert, und wie schon die letzten Male, wenn ich übermäßig zurückhaltend war, winkte H., bestimmt aber nicht unhöflich, ab. Ich sah ihm noch eine Weile dabei zu, wie er die Gläser spülte und war froh, dass wir nicht mehr über diese Sache redeten. 

Samstag, 22. August 2009

Belüftungszwang

Während des Weiterbildungsseminars, das L. und ich gemeinsam besuchten, meldete sich ein Teilnehmer und bat mich sehr höflich darum, ein Fenster zu öffnen. Er sagte: "Wäre es wohl möglich, dass wir für einen Moment belüften?" Ich bejahte und öffnete das Fenster, woraufhin sich der Mann mit einem Lächeln bedankte. L., die Französin ist, klärte mich anschließend flüsternd darüber auf, dass der Vorgang soeben ein sehr deutscher gewesen sei.  Sie sei der festen Überzeugung, sagte sie, die Deutschen litten unter einer Art "Belüftungszwang". L. sagte, sie habe diese Eigenheit nach ihrer Ankunft in Deutschland vor vielen Jahren mit sehr viel Staunen und einigem Amüsement beobachtet. Sie habe allerdings nach einiger Zeit feststellen müssen, dass der allseitige Wunsch nach Frischluftzufuhr nur in den seltensten Fällen etwas mit einem tatsächlichen Mangel an Frischluft zu zun habe. Es sei ihr, flüsterte sie jetzt noch leiser, in den Sinn gekommen, dass rein körperliche Bedürfnisse nichts mit alledem zu tun hätten. Ich hatte den Anschluss an das Thema des Seminars längst verloren, aber war mehr als gespannt auf L.'s weitergehende Theorie. L. äußerte die Vermutung, dass die von den Deutschen während des Kriegs durchgeführten Vergasungen wohlmöglich mit alledem zu tun hätten. Für einen Moment sah sie mich ernst an, dann lächelte sie. L.'s Bemerkung ging mir nicht mehr aus dem Sinn, und es dauerte nicht lange, bis ich mir wünschte, jemand möge das Fenster schließen, denn in der Zwischenzeit war es empfindlich kühl geworden.