Donnerstag, 8. Juli 2010

Pervertierte Einbildungskraft

H. heute zu mir, in einer Laune, die man nur als heiter bezeichnen kann: Er habe sich in der vollen U-Bahn auf einen der wenigen freien Plätze gesetzt, nicht ohne vorher, wie immer, zu überprüfen, ob sich auf der Sitzfläche Schmutz oder dergleichen befinde. Nachdem er sich gesetzt habe, sei ihm ein ziemlich starker Kotgeruch aufgefallen. Zwar habe er die Vorstellung, sich direkt in einen Haufen Scheiße hineingesetzt zu haben, ziemlich schnell von sich schütteln können, denn er hatte die Sitzfläche ja zuvor eingehend in Augenschein genommen. Als ihn aber die Blicke einiger Fahrgäste trafen (eine Frau zum Beispiel habe ihn etwas mitleidig angelächelt, sehr zurückhaltend, ein Lächeln mit den Mundwinkeln nur, dann habe ihr Blick den Bereich unter dem Sitz gestreift, auf dem er saß), sei er mit einem Mal davon überzeugt gewesen, dass sich unter seinem Sitz eine riesengroßer Haufen Scheiße befinden müsse. Er habe gedacht, dass dies auch der Grund dafür gewesen sein müsse, dass der Platz in der nahezu vollbesetzten Bahn frei geblieben war, obwohl es sich um einen der beliebten, direkt neben der Tür befindlichen Plätze gehandelt hätte. Es hätte ihn wenig gekostet, einen prüfenden Blick unter den Sitz zu werfen, aber er habe sich nicht getraut und sei stattdessen, er konnte es spüren, errötet. Natürlich habe er, als er ausstieg, mit einem kurzen Blick aus den Augenwinkeln feststellen können, dass sich nichts, aber auch rein gar nichts, unter seinem Sitz befunden hätte. Jemand hatte vielleicht einen Furz gelassen, Scheiße am Schuh zu kleben oder sich in die Hosen gemacht, habe er gedacht (was wiederum weitere Fantasien in ihm hervorgerufen habe) und er habe wohl lediglich unter dem Unglück zu leiden gehabt, einen über die Maßen empfindlichen Geruchssinn und eine pervertierte Einbildungskraft zu besitzen. Leider wollte H. die erwähnten Fantasien nicht mit mir teilen. Warum erzählst du mir diese peinliche Geschichte, fragte ich H. H. erwiderte, er könne es nicht genau sagen, aber er sei sich sicher, dass mir diese seine Geschichte eines Tages Anlass dazu geben werde, ihm endlich auch etwas von mir zu erzählen, das mich ähnlich erheitere wie ihn seine Geschichte in eben diesem Moment.