H. sagte, kürzlich sei er in der
Vorstadt zum ersten Mal seit langem wieder an dem Kinderheim vorbeigekommen, in dessen Nähe
sich das Haus seiner Eltern befinde. Verwaist habe der Hof dagelegen,
verwittert die hölzernen Spielplatzbauten, überwuchert die
Rabatten. Die Farben der in den Sand gebauten Holzeisenbahn mit ihrem
Eisenbahnführerhäuschen und den drei unterschiedlich angemalten
Waggons seien verblichen gewesen, die Fenster des Heimes dunkel zu
einer längst lichtlosen Zeit. Alles habe darauf hingedeutet, dass
das Heim verlassen gewesen sei. Er habe sich in diesem Moment
erinnern müssen, sagte H., wie er vor vielen Jahren mit seiner
Mutter an dem von einem Zaun umfassten Grundstück des Heimes
vorbeispaziert sei. Einige Kinder im Vorschulalter hätten
miteinander gespielt, er habe durch die Zwischenräume der Zaunlatten
hindurch zu ihnen hinübergesehen, eine Gruppe von drei Jungen habe
lustlos und wortlos einen Ball zwischen sich hin und her gekickt,
einige Mädchen hätten in einem der Waggons der hölzernen
Spielzeugeisenbahn gesessen, ihre Pferdeschwänze hätten gewippt im
Halblicht, Klatschgeräusche seien zu hören gewesen. Einer der
Fußball spielenden Jungen habe ihn bemerkt und sich von seinen
Spielkameraden entfernt, er sei zügigen Schrittes zu ihm und seiner
Mutter herüber- und nah an den Zaun herangekommen, habe seine Hände
auf den Zaun gelegt, habe ihn und seine Mutter angesehen und nichts
gesagt. Er müsse lügen, sagte H., wenn er das Aussehen des Jungen
beschreiben wolle, aber wahrscheinlich sei er blond gewesen, habe
wassergraue Augen gehabt und eine auffällig blasse Hautfarbe. Eines
aber wisse er genau - seine Mutter habe später oft genug davon
gesprochen – der Hals des Jungen sei übersät gewesen von
dunklenblauen Malen und über seiner Lippe habe eine verschorfte
Wunde geprangt. Seine Mutter habe den Jungen, der einige Jahre jünger
gewesen sei als er, der er damals die zweite oder dritte Klasse
besuchte, gegrüßt, aber der Junge habe nichts erwidert, habe sie
beide nur mit ausdruckslosem Gesicht angestarrt und irgendwann den
Blick abgewandt und auf seine, H.'s, Hand gestarrt, die die ganze
Zeit schon in der an diesem kalten Wintertag besondern warmen Hand
seiner Mutter geruht hatte. Wenn es stimme, wie er jetzt denke, dann
habe er in der Hand seiner Mutter etwas gespürt, dass ihm habe
signalisieren wollen, dass es an der Zeit sei zu gehen, aber seine
Mutter habe nicht etwa an ihm gezogen, überhaupt habe sie nie an ihm
gezogen, um ihn von einem Ort fortzubringen, an dem er, aus welchen
Gründen auch immer, verweilen wollte. Diesmal aber habe er etwas
gespürt, eine Unruhe, ein Unbehagen, ein Gehenwollen, sowohl an sich
als auch in der reglosen Hand seiner Mutter. Er habe den Wunsch
verspürt, dem Jungen seine freie Hand hinzustrecken, aber er habe
wohl geahnt, dass der Zaun, der zwischen ihnen war, diese Geste als
eine unerträglich verzweifelte und aussichtslosn Geste hätte
erscheinen lassen. Dem Jungen hinter dem Zaun sei der Rotz aus der
Nase gelaufen, er habe ihn sich lautlos und scheinbar
gedankenverloren, den starren Blicken in seine, H.'s, Augen gerichtet,
mithilfe des Jackenärmels aus dem Gesicht gewischt, seine Mutter und
er hätten sich mit einem Mal, wie durch ein stummes Einverständnis
ausgelöst, in Bewegung gesetzt, seine Mutter habe dem Jungen bereits
im Gehen einen Gruß zugerufen, den der Junge nicht erwidert habe,
jedenfalls nicht für eine in seiner, H.'s, Empfindung schier
undenkbar lange Zeit, bis er, sie seien schon fast um die Ecke außer
Sichtweite gewesen, das Wort Mama zu hören glaubte, aber
seine Mutter habe nicht reagiert, habe nur ihren Schritt
beschleunigt, so als wären sie in Eile gewesen, was ganz und gar
nicht der Fall gewesen sei, wenn er sich recht erinnere. Er, H., habe
zu seiner Mutter hinaufgesehen, und so als habe sie ein in ihrem
Gesicht sich abspielendes Geheimnis zu verbergen gehabt, habe sie ihn
zu seiner großen Beunruhigung sehr lange nicht angesehen, während
sie den Rest des Weges stumm nebeneinander her gingen.