Montag, 20. September 2010

Das Waisenkind

H. sagte, kürzlich sei er in der Vorstadt zum ersten Mal seit langem wieder an dem Kinderheim vorbeigekommen, in dessen Nähe sich das Haus seiner Eltern befinde. Verwaist habe der Hof dagelegen, verwittert die hölzernen Spielplatzbauten, überwuchert die Rabatten. Die Farben der in den Sand gebauten Holzeisenbahn mit ihrem Eisenbahnführerhäuschen und den drei unterschiedlich angemalten Waggons seien verblichen gewesen, die Fenster des Heimes dunkel zu einer längst lichtlosen Zeit. Alles habe darauf hingedeutet, dass das Heim verlassen gewesen sei. Er habe sich in diesem Moment erinnern müssen, sagte H., wie er vor vielen Jahren mit seiner Mutter an dem von einem Zaun umfassten Grundstück des Heimes vorbeispaziert sei. Einige Kinder im Vorschulalter hätten miteinander gespielt, er habe durch die Zwischenräume der Zaunlatten hindurch zu ihnen hinübergesehen, eine Gruppe von drei Jungen habe lustlos und wortlos einen Ball zwischen sich hin und her gekickt, einige Mädchen hätten in einem der Waggons der hölzernen Spielzeugeisenbahn gesessen, ihre Pferdeschwänze hätten gewippt im Halblicht, Klatschgeräusche seien zu hören gewesen. Einer der Fußball spielenden Jungen habe ihn bemerkt und sich von seinen Spielkameraden entfernt, er sei zügigen Schrittes zu ihm und seiner Mutter herüber- und nah an den Zaun herangekommen, habe seine Hände auf den Zaun gelegt, habe ihn und seine Mutter angesehen und nichts gesagt. Er müsse lügen, sagte H., wenn er das Aussehen des Jungen beschreiben wolle, aber wahrscheinlich sei er blond gewesen, habe wassergraue Augen gehabt und eine auffällig blasse Hautfarbe. Eines aber wisse er genau - seine Mutter habe später oft genug davon gesprochen – der Hals des Jungen sei übersät gewesen von dunklenblauen Malen und über seiner Lippe habe eine verschorfte Wunde geprangt. Seine Mutter habe den Jungen, der einige Jahre jünger gewesen sei als er, der er damals die zweite oder dritte Klasse besuchte, gegrüßt, aber der Junge habe nichts erwidert, habe sie beide nur mit ausdruckslosem Gesicht angestarrt und irgendwann den Blick abgewandt und auf seine, H.'s, Hand gestarrt, die die ganze Zeit schon in der an diesem kalten Wintertag besondern warmen Hand seiner Mutter geruht hatte. Wenn es stimme, wie er jetzt denke, dann habe er in der Hand seiner Mutter etwas gespürt, dass ihm habe signalisieren wollen, dass es an der Zeit sei zu gehen, aber seine Mutter habe nicht etwa an ihm gezogen, überhaupt habe sie nie an ihm gezogen, um ihn von einem Ort fortzubringen, an dem er, aus welchen Gründen auch immer, verweilen wollte. Diesmal aber habe er etwas gespürt, eine Unruhe, ein Unbehagen, ein Gehenwollen, sowohl an sich als auch in der reglosen Hand seiner Mutter. Er habe den Wunsch verspürt, dem Jungen seine freie Hand hinzustrecken, aber er habe wohl geahnt, dass der Zaun, der zwischen ihnen war, diese Geste als eine unerträglich verzweifelte und aussichtslosn Geste hätte erscheinen lassen. Dem Jungen hinter dem Zaun sei der Rotz aus der Nase gelaufen, er habe ihn sich lautlos und scheinbar gedankenverloren, den starren Blicken in seine, H.'s, Augen gerichtet, mithilfe des Jackenärmels aus dem Gesicht gewischt, seine Mutter und er hätten sich mit einem Mal, wie durch ein stummes Einverständnis ausgelöst, in Bewegung gesetzt, seine Mutter habe dem Jungen bereits im Gehen einen Gruß zugerufen, den der Junge nicht erwidert habe, jedenfalls nicht für eine in seiner, H.'s, Empfindung schier undenkbar lange Zeit, bis er, sie seien schon fast um die Ecke außer Sichtweite gewesen, das Wort Mama zu hören glaubte, aber seine Mutter habe nicht reagiert, habe nur ihren Schritt beschleunigt, so als wären sie in Eile gewesen, was ganz und gar nicht der Fall gewesen sei, wenn er sich recht erinnere. Er, H., habe zu seiner Mutter hinaufgesehen, und so als habe sie ein in ihrem Gesicht sich abspielendes Geheimnis zu verbergen gehabt, habe sie ihn zu seiner großen Beunruhigung sehr lange nicht angesehen, während sie den Rest des Weges stumm nebeneinander her gingen.