Donnerstag, 4. Februar 2010

R.






H. und ich machten mit dem 70-jährigen R. in einer Bar Bekanntschaft. Er war allein, trank Mineralwasser und trug einen dünnen hellen Trenchcoat. Wir bedauerten, dass er nicht in Begleitung war und fragten uns, wie es wohl wäre, wenn er bei uns säße und wir uns mit ihm unterhielten. R. bemerkte, dass wir über ihn redeten. Er kam auf uns zu und fragte, ob es noch weitere Schwulen- und Lesbenbars in der Gegend gebe. Aber wir konnten ihm keine Auskunft geben und baten ihn stattdessen, sich zu uns zu setzen. Nachdem er sich versichert hatte, dass unser Angebot ernst gemeint war, nahm er es mit einer gewissen Skepsis an und setzte sich zwischen uns auf die Couch. R. begann zu reden. Seiner elaborierten Sprechweise wegen hielten wir ihn anfänglich für einen Akademiker. Als R. allerdings zum wiederholten Mal um unsere Zustimmung heischte, dass dieser oder jener Sachverhalt von ihm besonders brillant ausgedrückt worden war und sich auf kindlich-überhebliche Art darüber freute, wenn wir ihm (zunächst aus Freundlichkeit und Anerkennung) beipflichteten, ahnten wir, dass es anstrengend mit ihm werden würde und es sich bei ihm mit großer Wahrscheinlichkeit nicht um einen Akademiker handelte. Wir hatten ihn zu uns gebeten, und es gab keine Möglichkeit, ihn nun ohne Weiteres wieder loszuwerden. Es dauerte nicht lange, bis wir von dem katholischen Waisenhaus erfahren hatten, in dem er aufgewachsen war, von den Spielereien unter der Bettdecke (nicht nur an sich selbst, sondern auch an den vom Nachtschweiß feucht gewordenen Verlockungen seines Heimfreundes), von den strengen Züchtigungen durch die unbarmherzigen Nonnen, von der Scham, der Schuld und der Sehnsucht, die nicht wusste wohin in der trostlosen Enge des Heims. R. sagte, das Waisenhaus habe sein Leben zerstört. Es dauerte nicht lange, bis wir von seiner jugendlichen Lese- und Rechtschreibschwäche erfahren hatten und von seiner Faust-Lektüre im Jugendalter, die R. so sehr beeindruckt hatte (was H. und mir schwer fiel zu glauben), dass sie in ihm den Wunsch geweckt hatte, Buchhändler zu werden, was ihm nach mehreren gescheiterten Bewerbungsversuchen mit einem nur mittelmäßigen Volksschulabschluss schlussendlich doch noch gelang. Wir erfuhren von R.'s Ausbruch aus der katholischen Kirche und der Zuflucht, die er bei den Protestanten suchte und nicht fand, weil diese ihn nicht weniger erbarmungslos als die Katholiken für sein Anderssein verurteilten, das er, wie er uns erzählte, ab der zweiten Hälfte seines Lebens umso offener vor sich hertrug, je frommer die Menschen waren, mit denen er Umgang pflegte. Er erzählte uns von seinem Bibelstudium und lobte sich für seine profunden  theologischen Kenntnisse und seine Fähigkeit, selbst einem beschlagenen Gemeindepfarrer in die argumentative Bredouille zu bringen. (In welchen theologischen Zusammenhängen genau, das verriet er uns nicht.) R. sagte, die Bibel habe sein Leben zerstört. Dass R., trotz seiner Lebensgeschichte und seiner Liebe zu Männern, zum engagierten Leiter einer dem Berliner Bistum angehörigen theologischen Buchhandlung geworden war und sowohl Geistlichen als auch theologisch interessierten Laien mit großer Sachkenntnis zur Seite stand, erschien uns vor allen Dingen deshalb kaum vorstellbar, weil R. nichts Gutes an der Bibel ließ. Vor vielen Jahren, sagte er, habe er die Bibel gelesen und nach einer weiteren lektürebedingten Demütung beschlossen, sie beiseite zu liegen und nur noch hervorzunehmen, um sie mit der Kraft seines Denkens argumentativ zu demontieren. Bisweilen, insbesondere im Kreise der radikalen Bibelfreunde, der über eine überraschend große Anzahl hochintelligenter Mitglieder verfüge, gelinge ihm das auch. Was ihn aber vor allen Dingen bedrücke, sei die Tatsache, dass ihn auch die Poesie der Bibel nicht mehr zu berühren vermag. Sie sei machtlos gegen das Schlechte und Böse, das um sie ist. Als wir R. vorsichtig mit der Tatsache vertraut machten, dass in der Bar, in der wir uns befanden, der einzige Band der sogenannten Klobibliothek eine Bibel war, lachte er laut auf und winkte ab. R. zeigte sich im weiteren Verlauf unseres Gesprächs ungläubig über unsere Bemerkung, dass wir uns zwar den Männern, aber deshalb noch lange nicht notwendigerweise einander über das Freundschaftliche hinaus zugeneigt fühlten. R. sah uns abwechselnd an, dann strich er H. über die Wange, was H. kommentarlos geschehen ließ. H. und ich sagten, dass wir uns nun langsam verabschieden müssten, und R. eröffnete uns, dass es bis zu einem gewissen Grad bereichernd gewesen sei, sich mit uns zu unterhalten. Ich fragte R., ob er sich während unseres Gesprächs habe bemühen müssen, seine Gedanken in eine schlichtere als die ihm gemäßeste Form zu kleiden. Er bejahte meine Frage mit einem energischen Kopfnicken, so als hätte er sich vor uns der Dummheit bezichtigt, wäre die Antwort auf die Frage ein Nein gewesen, wovon stark auszugehen ist. H. und ich verabschiedeten und verließen die Bar. Auf unserem Nachhauseweg sprachen wir über R.'s erschütterndes Geständnis: Er habe nie in seinem Leben, hatte R. gesagt je auch nur annähernd erfahren dürfen, was es bedeute, eine Freundschaft einzugehen, ganz zu schweigen von einer Liebesbeziehung, hatte R. gesagt. R. hatte uns im Anschluss daran noch sein tiefgehendes Interesse sowohl für kriminologische Fragen als auch für bestimmte Fragen des Sexualstrafrecht anvertraut und sich dann, selbstvergessen und wie aus einem Buch vortragend, eingehend zu einem Problemkomplex geäußert, den er mit dem Begriff Sexualmündigkeit bezeichnete. R. hatte uns wissen lassen, zu wem er sich sexuell hingezogen fühlte. Es fiel uns nicht schwer, uns vorzustellen, wie er in seinem dünnen Trenchcoat die windigen Ladenpassagen am Bahnhof Zoo entlanglief. Die Vorstellung davon, was geschah, wenn er erst fündig geworden war, beunruhigte uns aus irgendeinem Grund genauso, wie etwas Grundsätzliches an ihm.