Freitag, 5. März 2010

Die falsche Schwester

Ein alter Freund, der inzwischen in Übersee lebt, hat mir geschrieben. Der absenderlose Brief mit der ausländischen Briefmarke hat lange unangetastet auf dem Küchentisch gelegen, bis ich mich traute ihn zu öffnen. Aus irgendeinem Grund hatte ich ein ungutes Gefühl. Das Gefühl war so unbegründet wie die Nervosität, die einen überkommt, wenn man einen Anruf mit unterdrückter Rufnummer erhält, genauso paranoid. Als ich den Brief öffnete und die kleine enge Schrift sofort als die noch etwas kleiner und enger gewordene Schrift meines alten Freundes erkannte, war ich erleichtert. Ich dachte: Es hätte schlimmer kommen können. Ich dachte: Es ist dieser Freund, der mir geschrieben hat und kein anderer. Vielleicht dachte ich sogar etwas so Unsinniges wie: Das Schicksal meint es gut mit mir, die Vergangenheit ist gnädig. Warum mein alter Freund, seinen Absender nur in den Brief und nicht auf den Umschlag geschrieben hatte, verstand ich nicht. Noch auf der ersten Seite des Briefs schrieb mein alter Freund, dass seine Schwester gestorben sei. Er schrieb, er sei in unserer Geburtsstadt gewesen, um seine Schwester, wie er es ausdrückte, zu Grabe zu tragen. Er beschrieb den Tag des Begräbnisses als einen übersonnigen Tag, und er erwähnte, dass er mit seiner Familie auf dem Weg zum Friedhof an meinem Elternhaus vorbeigefahren sei und an mich gedacht habe. Ich stellte mir vor, wie mein alter Freund durch die triste Nachbarschaft meines Elternhauses fuhr und wie er später, zusammen mit drei anderen Männern, den Sarg seiner Schwester trug, obwohl heutzutage, wenn ich mich nicht täusche, es nur noch selten die Verwandten der Toten sind, die deren Särge tragen. 
Mein Freund von früher und ich hatten uns – das fiel mir jetzt wieder ein – das letzte Mal vor einigen Jahren am Bahnhof unserer Geburtsstadt getroffen. Ich erkannte ihn schon von Weitem an der Art, wie er den Kopf ein wenig schräg hielt beim Gehen. Damals war früher noch nicht allzu lange her. Mein alter Freund hatte sich jedenfalls nicht verändert. Wenigstens bildete ich mir das ein, denn er sprach, wie er immer gesprochen hatte, er sah mich an, wie er mich immer angesehen hatte, er trug die gleiche Jacke, die er immer getragen hatte. Vielleicht war ich damals der Überzeugung, dass ich auf dem besten Weg in ein Leben war, in dem sich alle Verheißungen, die es in meiner Vorstellung bereithielt, irgendwann erfüllt haben würden. Vielleicht wollte ich aber auch nur Abstand von allem, das Stillstand vermuten ließ. In jedem Fall glaubte ich, in einer ganz anderen Welt zu leben, als mein alter Freund. Auf eine seltsame Art fühlte ich mich fremd vor ihm. Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte auf seine Worte. Ich war wütend, weil es nichts zu sagen gab.
Obwohl ich der Schwester meines alten Freundes nie sehr nah gewesen war, hatte ich früher den Eindruck gehabt, dass sie, immer in Sichtweite, ihre Bahnen um den Alltag unserer Freundschaft zog. Mein Freund von früher und ich sahen uns damals sehr oft. Unsere Freundschaft war so eng, dass wir uns vermissten, wenn mehr als ein Tag ohne ein Treffen oder ein Gespräch vergangen war. Die Schwester meines Freundes von früher begegnete mir nicht nur im Elternhaus meines Freundes, sondern auch in der Schule. Sie war zwei Klassen unter mir. Wir grüßten uns, wir kannten uns, auf distanzierte Art waren wir uns sympathisch.
Ich habe bisher wenig Erfahrung gemacht mit dem Tod. Die plötzliche Präsenz der Schwester meines Freundes von früher beunruhigte mich. In Gedanken nannte ich sie immer wieder bei ihrem Namen, es kam mir geradezu hysterisch vor. Seit ich meinen alten Freund und damit auch sie aus den Augen verloren hatte, war mir ihr seltener Name nicht mehr zu Ohren gekommen. Wäre es doch dazu gekommen, hätte ich mit großer Wahrscheinlich nicht an die Schwester meines alten Freundes gedacht. 
Als ich am Tag nach der Brieflektüre aufwachte, ging mir im Halbschlaf der Gedanke durch den Sinn, dass die Schwester meines alten Freundes nicht tot sei. Der Gedanke weckte mich auf eine unangenehm Art, und je wacher ich wurde, desto unabweisbarer wurde die Überzeugung, dass mein Gedächtnis mir einen schrecklichen Streich gespielt hatte. Denn plötzlich fiel es mir wieder ein: Es hatte neben der jüngeren Schwester eine zweite Schwester gegeben, eine ältere Schwester, der ich nie begegnet war, weil sie damals nicht mehr in unserer Geburtsstadt lebte. Es bestand die Möglichkeit, dass ich mich geirrt hatte, dass ich in Gedanken die falsche Schwester tot geglaubt hatte. Ich schämte mich, und ich fragte mich argwöhnisch, warum mein alter Freund in seinem Brief den Namen der verstorbenen Schwester nicht erwähnt hatte. Aber dann sagte ich mir, dass es sicher keine Absicht gewesen war. Vielleicht hatte mein Freund von früher in seinem Brief gut versteckt darauf hingewiesen, welche Schwester gestorben war, ohne ihren Namen zu nennen. Vielleicht wollte oder konnte mein alter Freund aus irgendeinem Grund den Namen der Schwester nicht nennen. Ich las den Brief nicht noch einmal, um eine Antwort darauf zu finden, sondern nahm mir vor, meinen alten Freund in meinem Antwortbrief offen zu fragen, um welche Schwester es sich handelt, und die Scham angesichts meines folgenschweren Vergessens zu ignorieren. Aber die Scham blieb. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich schuldig. Ich hatte das Gefühl, etwas unfassbar Gewaltsames getan zu haben, etwas, wofür man nicht um Verzeihung bitten kann. 

Ich hatte recht. Jetzt weiß ich es. Mein alter Freund hat mir geschrieben. Man kann sagen, es war nur ein Irrtum, ein Missverständnis. Aber so einfach ist das nicht.