Donnerstag, 19. August 2010

Betende Hände

Ob Dürers Betende Hände noch immer in dem sogenannten halben Zimmer seiner alten Großmutter hingen, das habe er sich fragen müssen, sagte H., als er vor kurzem einen Mann zu sich mit nach Hause genommen und auf dessen Brust zu seiner großen und ganz und gar nicht unguten Überraschung Dürers Betende Hände eintätowiert vorgefunden habe. Die Hände hätten ihn als Kind sehr angezogen, etwas sei von ihnen ausgegangen und immer wieder - obwohl in der Familie oder im Haus der Großmutter nie je auch nur ein einziges Gebet gesprochen worden sei - in ihn hinein. Jetzt sah er sie wieder, auf der Brust dieses Mannes, in Grautönen, werkgetreu sozusagen, umflattert allerdings von einem Schwarm im wahrsten Sinne des Wortes gestochen scharfer, vor dem Hintergrund der schier unfassbar blassen Brust des Mannes irisierender Schmetterlinge. Als der Höhepunkt ihres – er müsse es so geschmacklos aber zutreffend sagen – Ausritts bereits nahte, habe der Mann, offenbar in vollem Bewusstsein darüber, dass H. der Anblick seines auf unwahrscheinliche Art verzierten Brustkorbs in große Erregung versetze, feierlich angehoben in seinem unverwechselbaren Cockney-Akzent zu deklamieren, Our father in heaven, hallowed be your name, your kingdome come, your will be done, on earth as in heaven, und er, H., habe sich nicht mehr einkriegen können und sei trotz aller vorangegangener Unsicherheiten und Irritationen, mit denen Körperliches seinerseits zumeist einhergehe, begleitet von einem nicht zu bändigenden Gelächter, aufs Vortrefflichste gekommen. Dass er den Mann am darauf folgenden Morgen, als er das Schlafzimmer nach einem Gang auf die Toilette wieder betreten habe, mit gefalteten Händen vor dem Bett kniend und ein Gebet murmelnd vorfand, müsse klingen wie eine ausgedachte Pointe, sei aber nichts als die Wahrheit. Dass der Mann sich nicht habe unterbrechen lassen, sondern sein Gebet zu Ende gesprochen und sich dann mit einem deutlichen Zeichen der Erregung aufs Bett geworfen und seine Arme ausgebreitet habe, um ihn ein weiteres Mal in aller Heftigkeit zu nehmen, passe kaum zusammen mit seinem unbemerkten Verschwinden, das er habe feststellen müssen, nachdem er aufgewacht sei und nichts weiter habe vorfinden können, das von der Anwesenheit des Mannes Zeugnis ablegte, als Reste von Glitter auf dem Kopfkissen und, wie er bei einem Blick in den Spiegel habe feststellen können, auf seinen Lippen.