Montag, 7. September 2009

Die Spitze des Eisbergs


Während der Mittagspause erzählte ich H., dass ich mich immer häufiger beim Führen von Selbstgesprächen ertappe. Wenn ich während eines Spaziergangs oder während des Einkaufs mit mir im Widerstreit liege (ich habe H. anvertraut, dass es sich meist um Streitselbstgespräche handelt) und mich der irritierte, mitleidige oder belustigte Blick eines Passanten trifft, erst dann wird mir meistens bewusst, was ich tue, so dass ich annehmen muss, dass meine Selbstgespräche in einer Art halbbewussten Versunkenheit stattfinden, was deshalb bemerkenswert ist, weil man davon ausgehen können sollte, dass das Führen eines Streitgesprächs ohne ein gewisses Maß an geistiger Gegenwart (in diesem Falle sich selbst gegenüber) nicht möglich sein kann.


Bastian Schreck: "Selbstgespräch", Acryl auf Leinwand, 120x40 cm

Ich kann nicht mehr sagen, warum ich H. überhaupt davon erzählt habe. Ich kenne ihn kaum gut genug, um ihm solche Dinge anzuvertrauen. Aber vielleicht ist es seine Unaufgeregtheit, die mir signalisiert, dass ihn nichts erschüttern kann, zumindest nicht im Hinblick auf die seltsamenen Angewohnheiten seiner Mitmenschen. Während ich erzählte, hatte ich trotzdem den Eindruck, dass ich etwas Unangemessenes tat, als würde es sich um eine Art Geständnisgespräch handeln, einen viel zu übereilten Versuch, Intimität herzustellen, als erzählte man einem Menschen, in den man sich heimlich verliebt hat, bei einem Treffen, das sich aus Zufall ergibt und in ein Gespräch mündet, den allerschlimmsten und obszönsten Alptraum, den man je hatte. Aber als ich mit meiner Geschichte fertig war, sagte H. nichts. Ich sah auf seine Hände, die ein Glas nach dem anderen in das klare Spülwasser tauchten, die aufgeweichten Fingerkuppen, die flächige Brandnarbe auf der linken Hand, die er sich vor vielen Jahren zugezogen hatte, als er sich im Suff (wie er mir sinnigerweise im Suff auf meine Nachfrage erzählte) mit brühendem Wasser übergossen hatte, in der hirnlosen Hoffnung, den aus der Verbrennung resultierenden Schmerz gegen einen Liebesschmerz eintauschen zu können, was natürlich nicht gelang, sondern darin gipfelte, dass sich beide Schmerzarten mehr oder weniger potenzierten. H. reagierte weder mit Unverständnis auf mein Selbstgesprächgeständnis noch mit der Empfehlung mich in die therapeutische Horizontale zu begeben. Er erzählte mir stattdessen, dass ihm ein Gedanke nicht mehr aus dem Sinn gehe, seit er ein Buch gelesen habe, das er zu Großteilen nicht verstanden und daher fast vollständig wieder vergessen habe. Jedenfalls bestand die Vorstellung darin – und H. sagte vorneweg, er halte diese Vorstellung für nichts als die Wahrheit – dass nur ein Bruchteil der von den Menschen produzierten Sprache eine zwischenmenschliche Sprache sei – nur die Spitze des Eisberges, sagte H., heiße es in dem Buch , während der große Rest sich jeder Beobachtung entziehe. Die Sprachen, die sich im Unterbewusstsein befinden und dort auch gesprochen werden, die Verbalträume, die Sprachgewitter im Halbschlaf, die Selbstgespräche, selbst das Denken in unseren Köpfen, das H.'s Ansicht nach nie vorsprachlich sei, sondern immer schon in der Sprache selbst stattfinde usw., alles das zusammen bilde, seit er das Buch gelesen habe, in seiner Vorstellung ein unermesslich reiches Sprachreservoir, das von seiner zwischenmenschlichen Zweckgebundenheit befreit sei und Formen beinhalte, von denen man eben träumen muss. H. sagte, nachdem ich bezahlt hatte, dass er eine gewisse Neugier, was meine Selbstgespräche angehe, nicht verleugnen könne und dass er sich sicher sei, dass ich bisweilen im Schlaf spreche.