Mittwoch, 9. September 2009

Vergiß mich nicht!

H. hat mir vor einiger Zeit sehr eindrücklich von der Flucht seines Großvaters erzählt, der als Halbwüchsiger, gemeinsam mit seinen Geschwistern, vor den näherrückenden Sowjettruppen aus Pommern geflohen ist. Erika, die Schwester von H.'s Großvater, verschwand damals in einem Waldstück. H.'s Großvater hat nie von seinen Erlebnissen gesprochen. Wann immer es jemand wagte, ihn auf die Fluchtereignisse anzusprechen, polterte er, er habe dazu nichts zu sagen, er wisse nichts, er sei ein Rotzbengel gewesen und habe die Augen zugemacht, wann immer es ging. 
H. sagte, dass er sich als Kind alles immer ganz genau habe ausmalen müssen. Wenn er nachts schlaflos gewesen sei, habe er die Bilder oft nicht loswerden können. Er habe Erika, als Kind in einem hellen Kleid mit nackten Armen, an einem bewölkten, windstillen Tag, an dem winzige, kaum sichtbare Schneeflocken vom Himmel fielen, zwischen den grauen Baumstämmen, gerade so als mache sie einen Waldspaziergang, langsam verschwinden sehen. Oft, sagte H., habe er sich Erika vorgestellt, wie sie – in ihrem leuchtenden Hemd an einen dunklen Baumstamm gelehnt – erfror, mit einem Gesichtsausdruck bar jeder Anspannung, so wie ihn H. von seiner schlafenden Schwester kannte.  
An dem Tag, an dem mir H. all das erzählte, war ich gerade mit der Bearbeitung eines Textes über die Wilhelm Gustloff fertig geworden, deren Untergang nach einem sowjetischen Torpedotreffer mit mehr als 10.000 deutschen Zivilisten und Soldaten als größte Schifffahrtskatastrophe aller Zeiten Eingang in die Geschichtsbücher gefunden hat. Ich erzählte H. die Geschichte einer Familie, die man nicht mehr auf die Wilhelm Gustloff gelassen hatte, verschwieg ihm jedoch aus irgendeinem Grund ihr weiteres Kriegsschicksal.



H. hat mir eine Fotografie geschickt, die Erika zeigt. 



H. schreibt in seiner E-Mail, er könne kaum glauben, dass ihm jahrelang nicht eingefallen sei, alles das, was er sich als Kind so lebhaft vorgestellt habe, zu hinterfragen. Nicht nur, dass Erika damals, wie das Foto belege, kein Kind mehr gewesen sei. Erika sei darüber hinaus mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht in einem Waldstück verschwunden, sondern auf der Wilhelm Gustloff umgekommen. Bei einer Familienfeier mit entfernten Verwandten großväterlicherseits sei das Gespräch, schrieb H., auf H.'s seit vielen Jahren verstorbenen Großvater und dessen Geschwister gekommen. Erika, habe es geheißen, habe ihre Familie verlassen, um die Wilhelm Gustloff zu erreichen, da sie geglaubt habe, der Fluchtweg zu See böte noch Chancen, während sie die Flucht zu Land, wie viele andere Flüchtende auch, als aussichtslos angesehen habe. Der Vorstoß der Roten Arme sei zu diesem Zeitpunkt sehr rasch erfolgt. Allerdings, schreibt H., habe niemand wissen können, ob Erika die Wilhelm Gustloff auch erreicht habe. H. schreibt, er habe niemandem aus seiner Familie von der Vorstellung erzählt, die er sich von Erika und ihrem Tod jahrelang seit seiner frühen Kindheit gemacht und dass er sie so viele Jahre immer für bare Münze gehalten hatte.  Seltsam sei, schreibt H., dass ich damals, als er mir von seinem Großvater und Erika erzählte, die Wilhelm Gustloff ins Gespräch gebracht habe. Gar nicht seltsam sei dagegen, dass er jetzt, im Rückblick, nicht den Eindruck habe, an irgendeine andere Person als ebenjene auf dem Foto abgebildete Erika gedacht zu haben, wenn er sich als Kind das Kind Erika vorzustellen versuchte, sterbend im Wald.  Wem die Worte auf dem Foto zugedacht sind, weiß H. nicht. Vielleicht hat Erika es auch nicht gewusst. Das ist zwar unwahrscheinlich, aber genauso wie H. damals das Bild der im Wald sterbenden, kleinen Erika nicht aus dem Sinn gegangen sei, gehe ihm nun die Möglichkeit nicht aus dem Sinn, dass die drei Worte auf der Fotografie ihm gelten könnten.